FREIHEIT DER KUNST = FREIHEIT VON MORAL? — JOHN VON DÜFFELS ANTIKENPARAPHRASE »IKARUS« FRAGT NACH DEM VERHÄLTNIS VON KUNST UND MACHT

Eine einzige Fachkraft, die bunkerbrechende Waffensysteme zu Land, Wasser und Luft, aber etwa auch irritierend schöne, fotorealistische Porträtmalerei und noch vieles mehr liefern kann? So jemanden engagiert jeder Regierungschef gerne als exklusiven Arbeitskraft. Einige der genialen Künstler-Ingenieure der Menschheitsgeschichte ließen sich nicht lange bitten und scherten sich wenig um den schlechten Ruf ihrer Auftraggeber. Leonardo da Vinci etwa ließ sich von den übelsten Despoten seiner Zeit dienstverpflichten, wie vor und nach ihm etliche andere berühmte und weniger berühmte Vertreter seiner Zunft. Auch sein mythischer Vorgänger Dädalus ist solch ein genialischer Konstrukteur, der seine schöpferische Energie, seinen enormen Erfindungsreichtum ohne Hemmungen einsetzt. Auch für ihn sind die Intentionen der Auftraggeber, die Folgen seiner Erfindungen zunächst irrelevant. Zum anstehenden 250. Geburtstag des Ulmer Flugpioniers Albrecht Ludwig Berblinger startet das Theater Ulm mit zwei Uraufführungen als Auftragswerken in seine Jubiläumsspielzeit: Während sich Ulf Schmidts »Berblinger, Schneider.« dem Erfinder und Sozialrevolutionär selbst widmet, greift John von Düffel als Autor von »Ikarus« auf den Mythos von Dädalus und Ikarus zurück, um die Stellung des Künstlers und Forschers in der Gesellschaft zu untersuchen. Dädalus stellt sich als Kreativer in der Lesart von Düffels bedenkenlos in den Dienst dubioser Herrscher, um bisher Ungeahntes zu kreieren. Ultimative Kriegs- oder Überwachungstechnik für den Potentaten entwerfen? Wird gemacht. Die zoophilen Triebe der First Lady mit innovativem Sex-Spielzeug unterstützen? Kein Problem. Genau dies aber wird ihm zum Verhängnis: Er kommt deren Anfragen und perversen Gelüsten bedenkenlos nach, das indes hat ungeahnte Folgen, tragische auch für ihn. Denn für die unvorhergesehenen Auswirkungen seiner Erfindungen haftet er allein, und das kostet ihn nicht nur die zuvor uneingeschränkte Selbstgewissheit, sondern mit dem selbst verschuldeten Tod des Sohns Ikarus auch die Reste möglichen Lebensglücks.

In vielen antiken Dichtungen von Homer über Apollodor und Vergil bis hin zu Ovid überliefert, erfasst dieser Mythos ein Thema, das uns intensiver denn je beschäftigt: den Drang zur Grenzüberschreitung, das bedingungslose Bedürfnis nach Neuerung, den alle Skrupel beseitigenden Glauben an die Segnungen der Technik, der Menschen von der Verantwortung für ihr Handeln befreit. In seine Bearbeitung des Stoffes implementiert John von Düffel die Frage nach der Dialektik des ›Fortschritts‹ und den moralischen Einsprüchen: Ist alles legitim, was menschenmöglich ist? Welche Verantwortung trägt der Künstler und Forscher für die von ihm kreierten Objekte und Optionen; wie autonom ist er in seiner Arbeit? Von Düffel erzählt vom Dilemma des Erfinders Dädalus aus der Rückschau – wem dient er, wem nützt seine Arbeit, was ist der Ertrag? Konterkariert von Begegnungen mit seinen Finanziers, dem Potentaten Minos und dessen Frau Pasiphae, reflektiert Dädalus nach Ikarus’ Tod die Risiken seines Talents und seiner Profession. Dabei interessieren von Düffel in seiner auch burlesk angelegten Antiken-Paraphrase neben der amoralischen Nähe des Künstlers zur Macht und dessen persönlicher Hybris ebenso die Funktion von Kunst, Wissenschaft und Forschung als Instrument und Insignie individueller Potenz und Mittel zur (niederen) Bedürfnisbefriedigung der zahlungskräftigen oder einflussreichen Klienten.

In Sachen Groteske der ›hohen‹ Politik werden in der aktuellen Wirklichkeit gerade erstaunliche Geschichtskapitel geschrieben, und angesichts der Volten und Eskapaden der Trumps, Johnsons und Beppe Grillos nebst Anhang erscheinen von Düffels Herrschergespann Minos’ und Pasiphae in machtbewusster Banalität und lachhaftem Pragmatismus als literarische Spiegelbilder einer so erschreckenden wie absurden Realität, während Dädalus als Geistesverwandter eines Elon Musk oder Peter Thiel daherkommt. Aus der Konfrontation von genialem Vermögen und trivialem oder destruktivem Ertrag bezieht von Düffels Stück seine slapstickhaften und tragikomischen Anteile, doch bleibt bei allem komödiantisch farcenhaften Potential der Bezug zu unserer Wirklichkeit überaus ernsthaft präsent: Wäre ein Dädalus heute unabhängig? Wohl kaum. Kunst und Wissenschaft sind zwar frei. So behauptet es das Grundgesetz. Aber diese Behauptung ist vermessen unter den Bedingungen kapitalistischen Produzierens und Kreierens, des Markts, der Drittmittel und Sachzwänge, auch staatlicher Effizienz- und Ideologievorgaben. Auch im 21. Jahrhundert befinden sich Kunstschaffende und Kreative im Sog von Geld und Macht, unterliegen »Freischaffende« ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Zwängen. Der Markt für kreative Ware gibt die Prämissen für Angebot und Nachfrage vor. »Dädalus« produziert auch heute für »Minos« oder »Pasiphae«, der »Freischaffende « wird korrumpiert, wenngleich die eigenen Werke einen hohen moralischen Anspruch behaupten. Und einen weiteren meist kaschierten Aspekt der Kreativität markiert von Düffel frei nach Heraklit mit boshaftem Witz: Wenn bei seinem Dädalus der Krieg der Vater aller kreativ hervorgebrachten Dinge ist, ist die Mutter des Erfindergeists nicht die Erotik, die Pornographie? Man mag das irritierend oder unmoralisch finden, doch es entspricht der Wirklichkeit: Nahezu jede wichtige technische Entwicklung unserer Tage basiert auf militärischen Interessen und Forschungen, was aber von den technischen Spitzenkräften als Kriegstechnik ersonnen wurde – von der Vulkanisation über die Bildmedien bis zur drahtlosen Kommunikation – wird innerhalb kurzer Zeit verblüffend verkaufsträchtig weiterentwickelt zum erotischen Vergnügen des normalen Konsumenten. Wie die Kunst geht auch die Wissenschaft nach Geld, was als militärische Forschung startete, mündet zumeist im exzessiven sexuellen oder pornographischen Gebrauch: Zerstörung und Lust sind untrennbar verwoben, mit dieser im Mythos angelegten Binsenweisheit über die (Un-)Moral menschlichen Sinnens, Trachtens und Handelns überrascht von Düffels Text auf sublime und grobkomische Art, und er überlässt uns die Entscheidung, ob wir in Anbetracht der offerierten Erkenntnisse (zu spät) verzweifeln wie Dädalus oder uns wie Minos und Pasiphae trotz alledem von Zweifeln frei amüsieren.

Dr. Christian Katzschmann

Mit freundlicher Unterstützung der Baden-Württemberg-Stiftung

AutorIn: Dr. Christian Katzschmann
Datum: 9.10.2019