»DER MOMENT, IN DEM WIR UNS WIEDER UMARMEN« - INTERVIEW MIT CHOREOGRAF PABLO SANSALVADOR

TR5 2830 Kopie

Der Choreograf Pablo Sansalvador ist international tätig und den Ulmerinnen und Ulmern auch als Tänzer bestens bekannt. Jetzt zeigt er im Rahmen von »Company and Friends« seine neueste Choreografie »Ignoramus« am Theater Ulm 

Christian Stolz Die Corona-Pandemie bestimmt unser Leben seit mehr als einem Jahr. Jeder und jede, auch die Kunst, versucht, sich durch diese Ausnahmesituation zu manövrieren. Wie hast Du das vergangene Jahr erlebt?

Pablo Sansalvador Wir erleben eine besonders sensible Zeit. Ich selbst fühle mich verletzlicher und ausgesetzter, es beeinflusst meine Inspiration. Besonders in der Tanz-Community sind die Karrieren, körperlich bedingt, kurz. Ein oder zwei Theater-Spielzeiten zu verlieren, in denen man nicht auftreten kann, haben eine große Auswirkung auf die eigene Professionalität, künstlerisch, persönlich, vielleicht auch emotional. Ich fühle mit den Tänzerinnen und Tänzern mit, die immer noch für den Tanz brennen und ich hoffe, dass sie sich Resilienz, innere Widerstandskraft, zulegen, um aus dieser Zeit noch stärker hervorzugehen, wenn die Chance wieder da ist, sich auf der Bühne zu zeigen.

Persönlich habe ich es in den letzten Monaten sehr vermisst, Aufführungen live zu sehen. Das hat mich dazu gebracht, auf andere Weise kreativ zu sein: denn diese Krisenzeit ist eine Herausforderung, die wir überwinden müssen. Ich hoffe, die Menschheit wird am Ende dieser Krise näher zueinander gefunden haben.

Christian Stolz Du hast eben den Begriff der Resilienz erwähnt. Diesem Wort begegnen wir derzeit oft: Wie man sich inmitten all der Distanzen von den eigenen im Kreis drehenden Gedanken ein Stück weit entfernen kann, wie man sich einen Abwehrpanzer gegen die innere Zermürbung zulegt, dazu gibt es in diesen Monaten, in denen wir auf uns selbst zurückgeworfen sind, viele Anleitungen. »Die Zeit« schrieb kürzlich: »Selbstdistanz, als momentane Freiheit von unmittelbaren häuslichen und beruflichen Pflichten, schafft die Möglichkeit zur Freiheit.« Arbeitest auch Du an Deiner Resilienz?

Pablo Sansalvador Ich glaube, es geht darum, kleine Tricks zu finden, die einem helfen. Vielleicht hilft es, eine Freundin oder einen Freund anzurufen, Musik zu hören, Sport zu machen, zu zeichnen, zu meditieren. Jetzt ist die Chance da, all das zu tun. Wenn man diese kleinen Dinge entdeckt, ist das eine Möglichkeit, die eigenen inneren Batterien aufzuladen. Das ist eine schöne Herausforderung, aber sie braucht Zeit und wir sind soziale Wesen, deshalb wirkt es im ersten Moment extrem unnatürlich, derart fern von seinen Mitmenschen zu sein. Ich warte auf den Moment, wenn wir Menschen uns wieder umarmen können, denn dieser Zustand, körperliche Distanz wahren zu müssen, hat Konsequenzen in vielen unserer Lebensbereiche.

Christian Stolz Manche Menschen sagen, sie empfinden eine neue Fragilität des Lebens, dass Gefühle an die Oberfläche gelangen, die sie lange nicht gespürt haben. Andere sagen, sie fühlen sich entschleunigt, und andere Menschen wiederum leiden, oder sind umso mehr gestresst. Wie blickst Du auf die Zukunft, die uns erwartet? Verändert die Corona-Zeit unseren Blick auf die Welt?

Pablo Sansalvador Das hoffe ich. Denn ich bin insbesondere wegen der Klimakrise besorgt, die ein noch größeres Problem werden kann als Corona. Das wird mir nach und nach bewusst. Kunst ist manchmal politisch und in der Choreografie, die ich nun am Theater Ulm entwickelt habe, kommen Spuren dieses Themas vor. Die Gier des Menschen ist unendlich, wir sind sehr gierig, und nichts wird uns stoppen, bis vielleicht die Erde selbst es tut. Hoffentlich sind wir intelligent genug, uns als Gesellschaft, als Zivilisation neu auszurichten. Ich weiß nicht, ob das zu meinen Lebzeiten geschieht, aber natürlich muss man sich irgendwann mit dieser Sackgasse auseinandersetzen. Auch wenn ich kein Wissenschaftler bin, hoffe ich, dass wir ökologischer denken werden, nachhaltiger, naturverbundener.

Christian Stolz Beeinflusst Dich die Corona-Zeit als Choreograf?

Pablo Sansalvador Ja. Meine Choreografie am Theater Ulm heißt »Ignoramus«. Menschen sind sehr intelligent, sie betreiben Naturwissenschaft, Physik, Mathematik: Was wir in den letzten tausenden Jahren gelernt haben, ist unglaublich. Doch so viel liegt nach wie vor im Dunkeln: Wir entwickeln Formeln und Strategien und Pläne, aber am Ende des Tages wissen wir wenig. Wie bemühen uns, zu wissen, aber sind noch immer am Lernen. Corona ist ein brillantes Beispiel für das Chaos und die Unsicherheit, von der wir umgeben sind. Wir versuchen, es durch Technik, durch Politik aufzulösen, das schweißt uns zusammen. Trotzdem hat die Ignoranz, »Ignoramus«, die Menschen zu jeder Zeit begleitet: Interessant ist, wie wir gegen diese Ignoranz anarbeiten.

Christian Stolz Ulm ist Dir gut bekannt, Du hast hier unter anderem bereits als Tänzer gearbeitet. Welches ist Deine Verbindung zu diesem Ort?

Pablo Sansalvador Ich war einige Jahre lang Tänzer am Theater Ulm. Bevor ich den Job bekommen habe, wusste ich nicht viel über Ulm.

Christian Stolz Wann war das?

Pablo Sansalvador Vor etwa sechs Jahren. Ich habe in Ulm viel gelernt. Als Choreograf und Tanz-Künstler hat mir das Theater viele Möglichkeiten geschenkt. Auch die Kulturabteilung hat mich darin unterstützt, zu arbeiten und Stücke zu entwickeln. Ich bin sehr dankbar dafür, was Ulm mir gegeben hat. In den vergangenen zwei, drei Jahren habe ich als Probenleiter außerhalb von Deutschland gearbeitet, für die National Dance Company Wales. Ich bin also dazu übergegangen, statt direkt auf der Bühne jetzt abseits der Bühne mit Tanz zu arbeiten – solch eine Veränderung ist ein sensibler Moment in der Vita aller Tänzerinnen und Tänzer.

Christian Stolz Deine Projekte erstrecken sich über viele Themen und Gebiete. Du realisierst Projekte zwischen Ländern und Kontinenten, zwischen freier Szene und Stadttheater. Der Vibe, den Du versprühst, ist sehr aktiv, sehr kreativ. Wo und auf welche Art arbeitest Du hauptsächlich?

Pablo Sansalvador Ich habe einen Studienabschluss in Design and Innovation und einen Masterabschluss in Design. Diese Studien haben mich darin beeinflusst, mich damit zu beschäftigen, wie sich Menschen miteinander in Beziehung bringen lassen. Ich habe an Stadt- und Staatstheatern gearbeitet und viele Jahre als Freelancer. So habe ich mich zwischen verschiedenen Netzen bewegt, das ist kein traditioneller Weg. Ich liebe es, kreativ zu sein, Choreografien zu erfinden und neue Arbeiten zu zeigen. Mit Menschen, mit Künstlern, zu arbeiten, ist sehr erfüllend für mich, und anregend.

Christian Stolz Hattest Du in Deiner Vergangenheit einen speziellen Moment, in dem Du erkannt hast: Ich liebe Tanz? Oder war es ein längerer Prozess?

Pablo Sansalvador Mit sieben Jahren habe ich begonnen, zu tanzen. In der Ballettschule wartete ich eines Tages auf meine Schwester. Der Lehrer hat mich gefragt: »Warum wartest Du, warum machst Du nicht mit?« So begann es. Ich genieße die Disziplin und die Kreativität, die es zum Tanz braucht. Wenn du ein junger Tänzer bist, tanzt du ständig in Stücken und bist kreativ. Irgendwann musst du dich entscheiden: Bleibe ich in der Tanz-Community, oder möchte ich etwas vollständig anderes machen? Ich habe mich entschieden, in der Community zu bleiben und die Fähigkeiten, die ich in meiner 15-jährigen Tänzer-Karriere gesammelt habe, mit der nächsten Generation von Tänzern zu teilen. Denn jetzt liegt es an ihnen, sie sind an der Reihe. Natürlich hat Corona einen großen Stein in die Mitte der Welt geworfen. Doch auch das werden wir überwinden: Unter anderem durch Tanz, denn er ist sehr zugänglich, ist nicht beschränkt auf bestimmte Geschmäcker oder Musik oder Sprachen. Tanz kann man sich ohne Hürden ansehen, er hat noch so viel Potential. Mittlerweile sind auch im Fernsehen Tanzaufführungen zu sehen, und auf TikTok: Tanz ist im Mainstream angekommen! Ich bin gespannt darauf, zu sehen, wie die Geschichte des Tanzes weitergeht.

Christian Stolz Wenn Du von außen auf Dich selbst schaust: Wie beschreibst Du Dich als Choreografen?

Pablo Sansalvador Im Ballettsaal ist es wichtig, sich nicht zu selbstbewusst zu fühlen. Es ist im gegenseitigen Zusammenspiel mit den Tänzerinnen und Tänzern ein verletzlicher Moment, wenn man ein Versuchslabor eröffnet, um das Ensemble zu inspirieren. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob ich mir selbst im Ballettsaal zuschauen möchte. Ich mag es, in eine bestimmte Richtung zu arbeiten und mache vorher inhaltliche Recherchen, um zu wissen, was ich mitteilen möchte: persönliche Gedanken, Philosophie, theoretische Ansätze. Partnerarbeit mag ich auf den Proben sehr. Und mir ist wichtig, den Tänzerinnen und Tänzern einen Raum zu bieten, in dem sie einbringen können, was sie interessiert, also einen Mittelweg zu finden zwischen meinen Gedanken und dem, was das Ensemble einbringt, das ja viele Erfahrungen und Fähigkeiten in sich trägt. Manchmal ist es wie Kuchenbacken: Ich gebe einige Zutaten in den Probenprozess, vielleicht verrühre ich die Zutaten, oder süße etwas nach mit Zucker, gebe Rosinen oder Bananen hinzu, und wir schauen gemeinsam, wie lange wir diesen Kuchen backen. Ich vergleiche das Zubereiten von Essen oftmals mit Tanzen: So, wie man sich viel Mühe gibt mit der Zubereitung einer guten Mahlzeit, so viel Energie gibt man auch in den Tanz – bis plötzlich alles vorbei ist und der Moment der Aufführung vergeht. Tanzen, Kochen, Kreativität: Das hängt miteinander zusammen.

Christian Stolz Du hast vorhin ein spannendes Stichwort genannt: Dass Kunst politisch sein kann. Ist Tanz politisch für Dich?

Pablo Sansalvador Ich erlebe, dass Kunst oft politisch ist, oder philosophisch, oder aus den Erfahrungen entsteht, die jemand macht. Was ich nicht mag ist, auf eine ganz bestimmte Aussage hinzuarbeiten. Die Schönheit der Kunst ist ja, dass jeder sie auf seine Weise interpretieren kann. Für mich ist es wichtig, Menschen einen Raum zugeben, in dem sie sich ausdrücken können, ein Raum, der respektvoll ist, in dem man Überzeugungen teilen möchte. Ich will bei der Entwicklung eines Stücks aus verschiedenen Blickwinkeln Erfahrungen austauschen, sie gleichsam auf einem Tisch ausbreiten. Das Publikum kann erkunden, ob es einen Geschmack davon mag oder eine Farbe, oder die Gewürze, die man daraus schmeckt. Meine Hoffnung ist, dass dem Publikum am nächsten Tag eine Erinnerung davon in die Gedanken kommt.

Christian Stolz Welche Gewürze sind in Deiner Choreografie »Ignoramus« enthalten?

Pablo Sansalvador Ein bisschen Chili. Wasabi auch, das mag ich. Und ich liebe es, wenn Ingwer dabei ist. Es könnte sein, dass auch ein dunkler Touch in »Ignoramus« steckt. Aber auch ruhige Momente sind darin enthalten, vielleicht auch ein Geschmack, den Du im ersten Moment nicht eindeutig erkennen kannst und von dem Du mehr kosten musst, bis Du ihn erahnst.

 

TR5 3385

 

Christian Stolz Was ist für Dich das Thema Deiner Choreografie?

Pablo Sansalvador Es geht um den Menschen, wie wir uns entwickelt und als Spezies verändert haben. Auch geht es darum, wie wir unsere Beziehung zu uns selbst ständig neu verhandeln, ebenso die Beziehung zu unserer Umwelt und der Natur und wie wir eine Balance mit ihr finden.

Christian Stolz Kannst Du uns an ein paar Momenten teilhaben lassen, die Du in den vergangenen Wochen bei den Proben hier am Theater erlebt hast? Wie bist Du mit dem Ensemble in die Proben gestartet?

Pablo Sansalvador Wenn man den Tänzerinnen und Tänzern Möglichkeiten gibt zu improvisieren, entsteht so viel Kreativität, wie ich allein sie niemals hervorbringen könnte. In dem Moment, in dem man dem Ensemble eine Aufgabe stellt, kann man beobachten, wie die Persönlichkeit jedes Beteiligten hervortritt. Das ist wunderbar zu erleben, ein Wow-Moment: Deshalb machen wir Tanz, weil es ein persönlicher und freigebiger Prozess ist. Man erhascht dabei schon einen kleinen Einblick in die Seele. Und wenn man für eine lange Zeit gemeinsam arbeitet, erlebt man natürlich Höhenflüge und Niederlagen, doch auch aus Niederlagen geht man weiter, stößt auf Neues, diskutiert, lacht, es passieren Missgeschicke: Das sind die coolen Momente der Proben.

Christian Stolz In der Mitte der Bühne steht ein Block, der aus vielen kleinen Holzwürfeln besteht. Bevor man die Choreografie sieht, könnte man impulsiv an Holzklötze für Kinder denken, Spielzeug. Wie würdest Du diese Holzwürfel beschreiben, und was passiert mit ihnen?

Pablo Sansalvador Auf der Bühne steht ein Würfel, der sich aus 125 kleinen Holzwürfeln zusammensetzt. Als Kind habe ich es geliebt, mit Legosteinen zu spielen, deshalb mag ich es sehr, mit Formen und Schnitten zu experimentieren. Für mich versinnbildlicht der Würfel etwas Natürliches, vielleicht die Erde, wie wir auf sie blicken, wie wir sie manipulieren, wie wir sie teilen oder sie sich uns unter den Nagel reißen, wie wir sie ständig umformen. In der Choreografie entwickelt jede Tänzerin und jeder Tänzer nach und nach einen eigenen Charakter, und die Individuen gehen unterschiedlich miteinander um. Es begegnen sich in der Choreografie Menschen, so wie wir uns in der Gesellschaft begegnen: Sie schützen sich selbst, teilen mit anderen was sie besitzen, oder sie teilen es nicht. In diesem Sinne wollte ich eine Geschichte über die Beziehung zwischen Menschen erzählen, und das, was den Menschen umgibt.

Christian Stolz Deine Choreografie folgt auf der einen Seite einer strikten Form, einem Prinzip, das hohe Konzentration von den Tänzerinnen und Tänzern erfordert. Auf der anderen Seite fühlt man, dass Dein Konzept Freiheiten gibt, sich zu bewegen. Auf welche Energie gründet sich Deine Choreografie?

Pablo Sansalvador Die Tänzerinnen und Tänzer sagen, dass sie sich zu jedem Zeitpunkt sehr auf die Choreografie in ihrer Gesamtheit konzentrieren müssen. Es gibt so viele riskante Stellen, an denen sie sich vertun können. Ich gebe den Tänzerinnen und Tänzern in einigen Punkten viel Freiheit, selbst kreativ zu sein, denn ich kann nicht alles auf Ansage choreografieren. Niemals würde ich auf der Probe sagen: »Das machst du so, und das machst du so.« Ich möchte die Choreografie Stück für Stück aus dem Ensemble herauskitzeln, und sie sind großartig darin. Punktuell bremse ich sie zeitweise, in einem choreografischen Sinne, und lasse sie dann wieder frei entwickeln.

Christian Stolz In Deiner Choreografie passieren viele Dinge gleichzeitig.

Pablo Sansalvador Mir ist das wichtig, dass es Momente gibt, in denen auf der Bühne vieles gleichzeitig passiert. Auf diese Momente folgt dann eine ruhigere Phase. Ich versuche damit, Wellenbewegungen zu erzeugen. Man hat als Zuschauerin oder Zuschauer, wenn vieles gleichzeitig geschieht, die Wahl, welchen Ausschnitt der Choreografie man in dem Moment beobachten möchte. Das ist eine Herausforderung, auch, weil es sich um eine 360-Grad-Bühne handelt mit Rundumblick. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, jemand anderen aus dem Publikum zu beobachten. Ich finde das sehr faszinierend, anderen dabei zuzusehen, wie sie sich eine Show anschauen – ihre Gesichtsausdrücke, ihre Körpersprache.

Christian Stolz Es ist wirklich spannend: Man könnte sich in Deiner Choreografie die ganze Zeit nur auf eine Tänzerin oder einen Tänzer konzentrieren, und würde ein anderes Stück erleben, als würde man allen zuschauen.

Pablo Sansalvador Genau! Bei den Proben im Podium setze ich mich immer wieder an verschiedene Stellen rund um die Bühne und schaue mir die Choreografie aus unterschiedlichen Perspektiven an. Dabei entdecke ich jedes Mal andere Dinge. Das ist inspirierend. Und dieses Setting lässt den Tänzerinnen und Tänzern mehr Eigenverantwortung: Das Publikum sieht sie die ganze Zeit, sie können sich nicht verstecken.

Christian Stolz Deine Choreografie zeigt keine konstanten Figuren wie in einem Handlungsballett. Aber sie zeigt Menschen, die in verschiedene Situation versetzt werden oder sich darin versetzen. Glaubst Du, die Menschen, die Typen, die die Tänzerinnen und Tänzer verkörpern, zeigen in dieser Choreografie eher starke oder zerbrechliche Menschen?

Pablo Sansalvador Ich ermutige das Ensemble, ihre Persönlichkeiten zu zeigen. In diesem Fall war es mir wichtig, dass wir auf der Bühne natürliche Charaktere sehen. Wir haben während der Probenzeit an einer Reihe von Haltungen und Emotionen gearbeitet. Am Anfang gab es Spuren von Charakteren, die ich dann in bestimmte Richtungen gepusht habe; dann haben sie automatisch ihre weitere Entwicklung genommen. Das hat Spaß gemacht. Man weiß am Anfang nicht, wie das Ensemble auf so eine Arbeitsweise reagiert. Wenn man als Choreograf sieht, dass sich Typen-Profile aus den Tänzerinnen und Tänzern herausschälen, ist es wunderbar, ihnen zu sagen: Versuch mal, auf den einen Tänzer auf diese Art zu reagieren, und auf den anderen Tänzer auf diese andere Weise. Es sind somit keine literarischen Charaktere, die wir in der Choreografie sehen.

Christian Stolz Was mir an Deiner Choreografie aufgefallen ist: Sie stößt eine Vielzahl von abstrakten Fragen an, zeigt aber klare Bilder. Bilder, die sich langsam zusammensetzen und über die man sich nach der Vorstellung gut austauschen kann. Trifft das Wort Puzzle auf die Form zu?

Pablo Sansalvador Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell man als Choreograf in die Versuchung gerät, bestimmte Botschaften vermitteln zu wollen. Ich habe bei dieser Choreografie versucht, einerseits mit Bildern zu spielen, die gut greifbar sind, und andererseits Momente zu entwickeln, bei denen man als Zuschauer ein wenig länger braucht, bis man sie entschlüsselt. Solche Puzzles machen Spaß. Ich hatte mir schon im Vorhinein einige Themen vorgenommen, die ich verhandeln wollte, aber andere Dinge haben sich erst in der Probenzeit ergeben. Inspiriert haben mich Kurzfilme und ihre Ästhetik: mit welchen Mitteln sie eine Handlung entwickeln, wie sie Charaktere zeichnen, in welcher Umgebung sie spielen.

Christian Stolz Deine Choreografie ist voller heller Momente, aber auch dunkler Farben. Manchmal verströmt sie eine traurige Atmosphäre, verharrt aber nicht dabei, sondern rauscht weiter, und man ist sehr gefesselt davon, weil das alles einen Vibe, eine kraftvolle Energie verströmt. Wie entwickelst Du als Choreograf aus den Stimmungsfarben, die Dir in den Gedanken schwirren, den konkreten Tanz? Wie transferierst Du theoretische Ideen in eine Choreografie?

Pablo Sansalvador Es ist eine Herausforderung. Ich versuche, aus kleinen Stücken heraus zu arbeiten, ein großes Thema erst einmal handlicher herunterzubrechen. Es ist, als würde man Teile eines Gedichts oder einer Geschichte oder eines Essens anrichten oder erarbeiten, als würde man verschiedene Farben miteinander kombinieren. Auch jede Musik, die ich ausgewählt habe, beeinflusst die Choreografie, gibt ihr neue Wendungen. Wichtig ist natürlich auch, dass die Tänzerinnen und Tänzer von der Grundidee überzeugt sind.

Christian Stolz Zuversicht ist das Wort der Stunde. Utopische, dystopische Momente zwischen Menschen scheinen auch in »Ignoramus« auf. Wie zuversichtlich bist Du, was die Zukunft angeht?

Pablo Sansalvador Keines der aktuellen Probleme wird sich schnell lösen. Denn es gibt einfach nicht die eine Lösung. Es wird noch viel menschliche Kraft nötig sein, um die Krisen zu überwinden, Geduld, Verständnis und Fürsorge. Ich hoffe, wir können Visionen entwickeln, die uns auf neue Wege bringen. Das versuchen wir auch im Theater.

Das Gespräch wurde aus dem Englischen übersetzt

 

Pablo Sansalvador

Pablo

ist Choreograf, Tänzer und Gestalter. Er wurde in Neuseeland geboren und begann dort zu tanzen. Sein Training setzte er in Barcelona fort und war anschließend Stipendiat, um an der Rambert School of Ballet and Contemporary Dance in London zu studieren. Seitdem hat er zahlreiche Stipendien erhalten, nahm am Boston Ballet Summer Dance Program, der International Ballet Masterclass in Prag und am International Choreographic Lab Österreich teil.

An der Open University UK schloss er ein Studium Design and Innovation ab, sowie ein Masterstudium Produktdesign an der Superior Design School in Barcelona.

Pablo Sansalvador war engagiert bei Companies und Produktionen in vielen deutschen Städten, unter anderem ab der Spielzeit 2013/14 am Theater Ulm, hatte darüber hinaus aber auch Gelegenheit, beispielsweise in England, Neuseeland, Dänemark, Südafrika und der Schweiz aufzutreten. Im Roxy Ulm ist er aktuell Künstlerischer Leiter des Tanzlabors.

Pablo hat in einem breiten Spektrum in sowohl klassischem als auch zeitgenössischem Tanz gearbeitet, beispielsweise mit August Bournonville, George Balanchine, Marius Petipa, Peter Schaufuss, Derek Deane, Jan Linkens, Mark Baldwin, Helen Pickett, Yuki Mori, Stephan Thoss, Sergei Vanaev, Gregor Seyffert, Yaroslav Ivanenko, Francesco Nappa, Roberto Scafati und viele mehr.

 

Mehr Infos auf http://pablosansalvador.com/

 

Pablo Sansalvadors Choreografie »Ignoramus« ist im Rahmen der Tanz-Produktion »Company and Friends« im Podium des Theaters Ulm zu erleben. Die Produktion feiert Premiere am 26. Juni 2021 um 19.30 Uhr.

Fotos: Tobias Rägle

Weitere Termine, Infos und Tickets unter: https://www.theater-ulm.de/spielplan/stuecke/company-and-friends-20-21