»WARTEN AUF GODOT« — ES LIEGT IN DER NATUR DES MENSCHEN, DASS ER EINE VISION BRAUCHT.

Wer Godot ist, das wissen die beiden lädierten Obdachlosen Estragon und Wladimir in Samuel Becketts berühmtem Theatertext nicht. Sicher ist nur, dass sie auf ihn warten müssen. Beide versuchen, wiewohl von Gebrechen geplagt, miteinander das Ausharren zu ertragen, so gut es geht, der eine eher rational, der andere impulsiv. Das Warten verbindet sie und gibt ihnen eine vage Sicherheit in einer Welt, in der es kaum mehr lohnende Aussichten und Glücksverheißungen gibt, nur die sich schier endlos dehnende Zeit, bis vielleicht Godot erscheint. Im Großen Haus hat »Warten auf Godot« am 26. September 2020 um 19 Uhr Premiere in einer Inszenierung von Jasper Brandis (Ausstattung: Maike Häber) mit Stephan Clemens, Markus Hottgenroth, Gunther Nickles und Frank Röder. Über Motive des Stücks unterhielt sich Chefdramaturg Dr. Christian Katzschmann anlässlich der Premiere mit dem Kirchenhistoriker Dr. Oliver Schütz.

Dr. Christian Katzschmann Im Stück fallen zahlreiche Rudimente christlichen Gedankenguts auf. Wie deuten Sie diese beim erneuten Lesen?

Dr. Oliver Schütz Man interpretiert auch diesen Text je nach Lebensalter anders. Als junger Leser haben mich besonders diese christlichen Reizwörter im Stück berührt, heute nehme ich die ironischen Anteile viel stärker wahr. Natürlich gibt es eine starke Prägung bei Beckett durch das kulturelle Erbe, es gibt die Erlösungsmotivik, direkte Verweise auf Bibeltexte, etwa bei der Passage mit den Schächern bei der Kreuzigung, das geht manchmal auch sehr ins Detail. Eine der Figuren, Wladimir, ist überaus informiert, hat nahezu Expertenwissen. Es gibt zudem das Kainund Abel-Motiv, die Anspielung auf den Brudermord, es tritt ein Bote auf, griechisch ja angelos — insofern hier, wenn man so will, ein Verweis auf Engelserscheinungen —, und es stellt sich auch die Frage, inwiefern Godot für Gott steht, das Wortspiel God/Godot ist ja für den Iren Beckett naheliegend. Aber die Überschreibung, Umwertung dieser Motive durch Beckett aus der Erfahrung des Holocaust, die war mir als junger Leser nicht so deutlich. Da ist wohl auch Lebenserfahrung und die explizite Frage vonnöten, was wird aus dem Glauben nach Auschwitz, kann es nach dieser Zäsur eine religiöse Existenzbegründung, die Hoffnung auf eine göttliche Instanz, die erlöst, überhaupt noch geben.

Dr. Christian Katzschmann Der Himmel ist mittlerweile für fast die Hälfte der Mitbürgerinnen und -bürger dieses Landes leer, Godot/God ist für sie keine Erwägung mehr wert, die ›Erlösung‹ liegt ganz im Diesseits ... Ist die althergebrachte Glaubensperspektive, auf etwas Jenseitiges zu hoffen, heute ganz obsolet?

Dr. Oliver Schütz Das war auf jeden Fall ein lange wirksames religiöses und gesellschaftliches Geschäftsmodell, die Zuweisung auf einen mir im Leben zugewiesenen Platz und die Vertröstung auf eine Belohnung ›danach‹, das mit der zunehmenden Konzentration auf den Menschen im Hier und Jetzt seine Attraktivität eingebüßt hat. Es ist ein Modell, das nicht mehr funktioniert, ersetzt durch eine neue Religion, den Konsumismus. Und es ist bezeichnend, dass es für viele Menschen in dieser Corona-Situation nur schwer und mit Entzugserscheinungen auszuhalten war, dieser Religion nicht nachgehen zu können mit der Einschränkung von Konsum, Reisen und Unterhaltung. Wenn mein Leben darin besteht, dass ich es mit einer Vielzahl von Dingen, Aktivitäten vollstopfe, tritt in solch einer Lage unter Umständen zutage, dass ich die Erfüllung nicht in der kurzfristigen Erwartung auf Sensationen finde, von immer wieder etwas Neuem. Sobald ich mir dann Gedanken mache, worin mein Leben statt dessen besteht, gehe ich nicht unbedingt den Schritt zur Metaphysik, über die unmittelbare Welt hinaus in einen größeren Rahmen zu blicken, aber ich überlege mir auf jeden Fall, wie ich die Zeit in der Wirklichkeit, in die ich gestellt bin, mit Sinn erfüllen könnte. Dafür geben Wladimir und Estragon mir aber im Stück natürlich keine Handlungsanweisungen, wie ich mein Leben sinnvoll gestalte, wenn »Godot« nicht kommt oder gar nicht existiert.

Dr. Christian Katzschmann Kommen wir ganz ohne Hoffnungsperspektive aus?

Dr. Oliver Schütz Ich denke, es liegt in der Natur des Menschen, dass er eine Vision braucht, eine über den Tag hinausweisende Perspektive. Wenn es nicht so wäre, müsste das Leben wie auch das Stück nicht über den ersten Moment, den ersten Satz hinaus weitergehen: »Nichts zu machen.« Was hindert einen daran, sich gleich an dem Baum da aufzuhängen? Mit all der Mühsal des Weiterexistierens, dem Überdruss am immerwährenden Weiter-So von Tag zu Tag drängt sich der Gedanke auf, was mich eigentlich noch antreibt, zusammenhält. Das können religiös konnotierte, aber auch säkulare Hoffnungen sein, die mich weiter motivieren, das kann die eine Reise sein, die man noch gemeinsam unternehmen will, das kann der Wunsch sein, gemeinsam alt zu werden, die Enkel aufwachsen zu sehen ... Ohne diese Bilder, diese Schritte hin zu etwas, das noch entfernt liegt, aber zu erreichen wäre, wird das Weiterleben in diesem Wartezustand, in dem wir Menschen uns befinden, verzweiflungsvoll und schwierig, so lese ich auch das Stück.

Dr. Oliver Schütz studierte katholische Theologie und Geschichte in Tübingen, München und Berkeley und promovierte in Frankfurt/ Main in Kirchengeschichte. Seit 2014 ist er Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung für Ulm und den Alb-Donau-Kreis.

Das vollständige Interview finden Sie im Programmheft zum Stück.

Dr. Christian Katzschmann

AutorIn: Dr. Christian Katzschmann
Datum: 25.09.2020