VERFÜHRUNG UND VERLUST: »FACES OF LOVE«

Zwei Gast-Choreografinnen entwickeln mit dem Ensemble tänzerische Interpretationen über kraftvolle und zerbrechliche Seiten von Liebe: Beatrice Panero und Noel Pong. Im Blog erzählen sie von ihren Blickwinkeln auf die Liebe und geben einen Einblick in die Proben im Ballettsaal.

BeatricePanero   

»Wenn Liebe mit im Spiel ist, sind gewöhnlich beide Teile die Betrogenen«: In seiner Biografie »Geschichte meines Lebens« zieht Giacomo Casanova eine bittere Essenz aus seinen amourösen Abenteuern. Gleichzeitig steht für ihn fest: »Den Freuden meiner Sinne galt mein Leben lang mein Hauptstreben; etwas Wichtigeres gab es für mich niemals.« Casanova und Don Giovanni rufen Bilder auf, die für den Inbegriff eines trickreichen Charmeurs, Womanizers, Verführers stehen. Ein Tanzstück über diese Herzensbrecher und ihre Lust entwickelt Beatrice Panero für »Faces of Love«. Bis vor einem Jahr war sie Tänzerin am Theater Ulm, jetzt kehrt sie als Gast-Choreografin nach Ulm zurück.

 

Wie ist es für Dich, als Choreografin wieder am Theater Ulm zu sein?
Es ist für mich, wie zurück nach Hause zu kommen. Von Anfang an war es ein gemütliches Gefühl. Ganz wichtig ist für mich in dieser Produktion, dass die Tänzerinnen und Tänzer mit mir so eng kooperiert haben. Sie haben selber Schritte entwickelt und vom ersten Tag an begonnen, meinen Stil anzunehmen. Für mich sind die Tänzerinnen und Tänzer die Choreografie.

Welche Aufgaben hast Du dem Ensemble zu Probenbeginn gestellt?
Ich hatte die Idee, dass ich mit den Tänzerinnen und Tänzern erst einmal an etwas ganz Klarem arbeite. Das bedeutet, dass ich eine Tanzkombination entwickelt und ihnen gezeigt habe. Dieses Material haben sie dann selber weiterentwickelt, Duette und Soli daraus gemacht.

Mit diesen Tanzschritten habt Ihr dann an der Choreografie gearbeitet?
Dieses Material, diese Schritte sind sehr präsent für das ganze Stück. Zusammen mit dem Ensemble haben wir sie weiter verändert. Ich habe auch neue Schritte damit aufgebaut. Wenn ich Tanzschritte kreiere, sollen sie nicht ohne Sinn sein: Die Schritte sollen Worte sein, klare Nachrichten, nicht nur Formen.

Wie hast Du Dein Thema im großen Thema »Liebe« gefunden?
Am Anfang war ich ziemlich unsicher, was ich mit dem Thema »Liebe« machen sollte. Ich wollte nicht zu romantisch sein. Meine Mutter sagte zu mir: »Warum machst du nicht etwas über Casanova?« Das fand ich interessant. Dann habe ich an die Themen Verführung und Lust gedacht. Meine erste Idee war, die Geschichte von Casanova zu erzählen. Aber es sollte nicht zu narrativ werden, keine Biografie. Ich will eher die Geschichte von Casanova dafür verwenden, um derlei Seiten von Liebe zu zeigen.

Würdest Du sagen, dass man die historische Figur Casanova sieht? Oder ist es eher ein in die Moderne geholter Casanova?
Es ist assoziativ. Ich verwende die historische Figur und bringe sie in die moderne Zeit. Wie war sie früher, wie ist sie jetzt? Deshalb sehen wir in meinem Stück auch eine Umkehrungsszene: Die Frau verführt den Mann, nicht nur der Mann die Frau. Don Giovanni ist dagegen die Assoziation der dunklen Seite von Liebe.

Was macht ihn dazu?
Casanova liebt alle Frauen. Don Giovanni benutzt alle Frauen, ohne Emotionen, sie sind einfach Fleisch für ihn.

Dann geht es auch intensiv darum, Geschlechterrollen aufzubrechen?
Es war für mich sehr wichtig, die weibliche Seite in die Lust, in die Verführung hineinzubringen, um damit die Frage zu stellen: Wie wäre Casanova als Frau? In der Historie war das nicht möglich, heute schon.

Welche Gefühle, denkst Du, könnte Dein Tanzabend ansprechen?
Ich denke, das Publikum kann Melancholie erwarten, aber auch die richtige, wahre Liebe. Man sagt, dass wir nur einmal im Leben lieben. Diese Liebe werden wir im Stück sehen. Es gibt Spaß und Lust pur. Und darin kommt auch Komik auf.

Beatrice Panero studierte an der niederländischen »Codarts Rotterdam Dance Academy«. Nach mehreren Engagements als Tänzerin war sie von 2016 bis 2018 Ensemblemitglied der Compagnie am Theater Ulm. 2018 wechselte sie ans Theater Trier. Seit der Spielzeit 2019/20 gehört sie zum Tanzensemble des Theaters Bern. Für ihre Choreografien erhielt sie bereits Auszeichnungen.

BeatricePanero   

Wer das »Telefon des Windes« betritt, trauert. Eine Telefonzelle in einem Garten im japanischen Dorf Otsuchi ist zu einem Ort des Trosts für Menschen geworden, die bei dem verheerenden Tsunami im Jahr 2011 Freunde, Partner, Familienangehörige verloren haben. Das Telefon ist an kein Netz angeschlossen. Wenn nur noch das Geräusch des Windes und der Wellen zu hören ist, sprechen die Trauernden ihre Gedanken aus, um Verbindung aufzunehmen mit den Verstorbenen. Für die Choreografin Noel Pong aus China ist das »Telefon des Windes« ein Impuls, um sich mit dem Thema des Verlusts von Liebe auseinanderzusetzen.

 

Welches waren Deine ersten Eindrücke als Du in Ulm angekommen bist?
Ich bin zum ersten Mal in Ulm und arbeite zum ersten Mal im Ausland. Noch nie habe ich mit einer europäischen Compagnie gearbeitet. Darum ist es eine Herausforderung für mich, hier zu choreografieren, mich einzuleben.

Fallen Dir Punkte auf, in denen sich der Tanzstil in Asien und Europa generell unterscheidet?
Ganz allgemein gesagt machen Tänzer, die in Europa tanzen, sehr große Bewegungen, mit ihren Schultern, Gliedmaßen, ihren ganzen Körpern. In Hong Kong konzentrieren wir uns auf sehr schnelle und scharfe Schritte, auf eine Dringlichkeit der Bewegungen. Vielleicht ist das so, weil wir in einer sehr dichten und sehr geschäftigen Stadt leben, anders als hier, wo die Menschen mehr Platz haben.

Das Thema dieses Tanztheaters wird Liebe sein. Wie hast Du Deinen Fokus im riesigen Gebiet »Liebe« gefunden?
Sobald Du jemanden — oder etwas — liebst, wirst Du Angst haben, ihn zu verlieren. Wenn Deine Liebe wächst, wird die Furcht größer. Ich habe meine Familie, meinen Mann, ich habe gute Freunde, einen guten Job: Ich bin glücklich darüber, wer ich bin und was ich jetzt habe. Deshalb denke ich immer darüber nach, was passiert, sollte ich eines Tages etwas davon verlieren. Auf Facebook habe ich ein Video über diese Telefonzelle in Japan gesehen und kann stark nachempfinden, wie die Menschen sich fühlen, die Familienmitglieder oder Freunde verloren haben. Ich glaube, dass verschiedene Gesichter von Liebe auch über den Verlust von Liebe erzählt werden können. Für mich ist es interessanter, mich mit diesem Thema in Deutschland zu beschäftigen als in Hong Kong. Die Menschen hier in Europa könnten denken: »Weine doch einfach! Warum musst du dich mit jemandem unterhalten, der nicht da ist?«

Wie möchtest Du solche schmerzlichen Emotionen in ein Tanzstück übertragen? Soll es auch Hoffnung in der Choreografie geben?
Ja. Ich verhandele das gerade mit mir selbst. Ich möchte kein tieftrauriges, sich schwer anfühlendes Stück machen. Ich bin daran interessiert, die Choreografie wie einen Film zu schneiden. Bei Filmen wird die Geschichte manchmal nicht chronologisch erzählt. Sie springt vor und zurück. So wird es auch unbeschwerte Momente geben.

Hattest Du in Ulm bisher schon ein besonderes Erlebnis?
In Hong Kong gehe ich nach der Arbeit aus, zum Beispiel shoppen oder zu einem Abendessen. Aber hier in Ulm bin ich allein in meinem Appartement, koche, wasche … In einigen Wochen werde ich zu meiner Familie zurückkehren, doch die Leute in der Telefonzelle können das nicht. Vielleicht wird mich das auch in meiner Arbeit beeinflussen. Man kann nicht planen, wie eine Choreografie wird, weil es über das Improvisieren funktioniert, darüber, wie ich mich zurzeit fühle. Ich bin also selber gespannt darauf, wie sich meine Choreografie weiter entwickelt.

Noel Pong studierte an der »Hong Kong Academy for Performing Arts«. Seit 1997 arbeitet sie als Tänzerin bei der »City Contemporary Dance Company« Hong Kong, wo sie auch als Choreografin tätig ist. Ihre Choreografie »Crime Scene« wurde von der »South China Morning Post« als eine der besten Tanzproduktionen 2009 ausgewählt.

Die Interviews führte Christian Stolz. Das Interview mit Noel Pong wurde aus dem Englischen übersetzt.

AutorIn: Christian Stolz
Datum: 9.10.2019