SALZIG WIE MEINE TRÄNEN - ZUR PRODUKTION »WRITTEN ON SKIN«

Drei Engel reißen uns fort in eine Zeit, als Bücher noch kostbare Schätze waren, von Hand gemalt auf Haut. George Benjamins Oper »Written on Skin« erzählt von der Macht der Kunst, die so gewaltig ist wie die Liebe: Unauslöschbar gräbt sie sich in unser Herz und verwandelt uns für immer. Ein klang- und sprachgewaltiges Opernerlebnis über das Schreckliche des Schönen!

Selten wird man sich über Kunst einig. Doch in diesem Fall urteilen Publikum und KritikerInnen einstimmig: »Written on Skin« ist eine der sehenswertesten Opern unserer Tage. Auch die Zahlen sprechen für einen Sensationserfolg: Nach der umjubelten Uraufführung im Sommer 2012 hat das Werk inzwischen schon rund 100 Aufführungen erlebt, von London über Amsterdam, New York, Moskau, München, Toronto — und Detmold, wo Kay Metzger in einer »ungemein fesselnden […], in ihrem Assoziationsreichtum und in der unmittelbaren Wirkung bewegenden Produktion« (Online Musik Magazin) das moderne Meisterwerk ausleuchtete. Ab Mai ist die Inszernieung, die sogar schon an der Königlichen Oper Stockholm aufgeführt wurde, im Theater Ulm zu sehen. Die um Leidenschaft und Besitzdenken kreisende Handlung der Oper entspinnt sich in einem stilisierten 13. Jahrhundert im Anwesen eines reichen Landbesitzers, dem Protektor. Dieser hat sich in den Kopf gesetzt, in einem mit Bildern bestückten Buch seine gewaltsam durchgesetzten politischen Erfolge sowie sein wohlgeordnetes heimisches Glück festhalten zu lassen. Zu diesem Zweck nimmt er einen jungen Buchkünstler bei sich auf — nicht ahnend, dass das Buch und sein Schöpfer zum Katalysator rebellischer Gefühle in seiner fügsamem, jungen Frau Agnès werden. Zu allem bereit, um die Kontrolle zurückzuerlangen, setzt der Protektor Agnès eines Abends eine mysteriöse Speise vor und fragt begierig, wie sie ihr schmeckt. »Süß, wie meine eigene Milch, ja — gut — aber salzig — salzig, wie meine eigenen Tränen. Warum …?« Die unwiderstehliche Sogkraft, mit der »Written on Skin« sein Publikum bannt, liegt neben der emotionalen Wirkmacht der Opernhandlung natürlich vor allem an der Musik von George Benjamin. Bereits als Siebenjähriger komponierte der gebürtige Londoner bändeweise Musik; mit 16 nahm der große Olivier Messiaen das Jungtalent als seinen letzten Lehrling an. »George war mein Lieblingsschüler«, erinnerte Messiaen sich, »er verfügt über eine ähnlich große Begabung, wie sie dem jungen Mozart nachgesagt wird.« Viele Jahre wünschten sich die Opernhäuser vergeblich ein Bühnenwerk von dem vorsichtigen, lange an seinen filigranen Klangzauberpartituren feilenden Komponisten. Der passende Textdichter für Benjamins hohe Ansprüche fand sich aber erst in Martin Crimp und dessen einzigartigem literarischen Stil, die Figuren zu ihren eigenen Erzählern zu machen. 2006 entstand eine erste gemeinsame Kammeroper, in den Jahren danach reifte »Written on Skin«. Auf Basis der Legenden um einen historischen provenzalischen Troubadour des 13. Jahrhunderts entwickelten Crimp und Benjamin ein von Allegorien durchwirktes Kammerspiel. Inspiriert unter anderem durch den Wim-Wenders-Film »Himmel über Berlin« wurden der Handlung drei Engel hinzugefügt, wissend um den Gang der Welt bis ins 21. Jahrhundert, die mit kühlem Blick die Mechanik der menschlichen Natur sezieren und kommentieren. In Ulm wird Dirigent Michael Weiger das Philharmonische Orchester durch George Benjamins klangsinnliche Partitur führen. Der Komponist verrät, er habe — um die Kunst der Illustration zu evozieren, die in der Handlung eine so zentrale Rolle spielt — eine breite Palette von instrumentalen Farben genutzt. Zusätzliche Dimensionen eröffnet er dabei mit heute nur selten eingesetzten Instrumenten wie der Bass-Viola da gamba und einer Glasharmonika. Der Tagesspiegel feiert ihn dafür als »verblüffend klarsichtigen Wachträumer«, der eine derart luzide Musik schreibe, dass sie »beim Hörer im Nu die Wirkung einer bewusstseinserweiternden Droge entfaltet.«

AutorIn: Diane Ackermann
Datum: 11.04.2019