»KUNST IST FÜR MICH EIN LEBENSMITTEL« — EIN GESPRÄCH ÜBER KUNSTBEGEISTERUNG UND MUSEUMSLEIDENSCHAFT

Thomas Bernhards Protagonisten sind Persönlichkeiten mit radikalen Ansichten. Sie bei ihren verbalen Rundumschlägen zu belauschen, ist ein intellektuelles Vergnügen. Seit langem gelangt deshalb neben den Dramen auch Prosa des sarkastisch klugen Misanthropen auf die Theaterbühnen, nicht zuletzt sein Roman »Alte Meister«. In diesem von Bernhard als ›Komödie‹ bezeichneten Werk gibt sich der Musikkritiker Reger im Kunsthistorischen Museum tagtäglich der Kontemplation hin — das ist »Voraussetzung für sein Denken«. Er untersucht die sogenannten Meisterwerke so lange, bis er den »gravierenden Fehler« darin entdeckt, denn das »Vollkommene« mache uns lebensgefährdend das eigene Unvermögen und Scheitern bewusst. Das erfährt durch Reger auch der Privatgelehrte Atzbacher, der ihm über die Jahre zum Gesprächspartner geworden ist ... Nachdem das Theater in der vergangenen Spielzeit mit »Judas« im Ulmer Münster zu Gast war, laden wir mit der Inszenierung von »Alte Meister« nun erneut an einen ungewöhnlichen, aber idealen Aufführungsort: Am 4. Oktober 2019 hat die Inszenierung von Deborah Krönung mit Stephan Clemens und Gunther Nickles in den Ausstellungsräumen des Museums Ulm und der kunsthalle weishaupt Premiere. Das Publikum wird dabei Teil eines sprachkünstlerischen Gedankengangs über Kunstwerke, der selbst längst als Meisterwerk gilt.

Chefdramaturg Dr. Christian Katzschmann sprach anlässlich der Premiere von Thomas Bernhards »Alte Meister« mit der Direktorin des Museums Ulm, Dr. Stefanie Dathe.

Können Sie eine solche intensive Kunstbegegnung wie in Thomas Bernhards »Alte Meister« nachempfinden?
Das kontemplative Eintauchen in ein künstlerisches Werk, die formalästhetische Faszination und anhaltende inhaltliche Auseinandersetzung kann ich persönlich sehr gut nachempfinden, ertappe ich mich doch selbst immer wieder bei der wiederholten Betrachtung einzelner Kunstwerke, die eine besondere Faszination auf mich ausüben. Eine wesentliche Aufgabe von Kunst ist der stumme Dialog mit der Betrachterin oder dem Betrachter. Es sind insbesondere Bilder und Objekte der Kunst, von denen wir Rückbesinnung, Selbsterfahrung und Seinsbestimmung erwarten, die erbauen, bestätigen, anleiten, aufrütteln und den gedanklichen Austausch stimulieren sollen. Denn es ist eine der Hauptaufgaben von Kunst, uns mit etwas vertraut zu machen, was wir bisher nicht kannten. Jedes Kunstwerk verarbeitet im gestalterischen Formungsprozess die sichtbaren und unsichtbaren Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Damit wird es Bedeutungsträger und Mittel zur Bewusstseinserweiterung. Damit erlangt es eine kommunikative Funktion, verändert es unser Vorwissen und unsere Erwartungen. Die Bedeutung der Kunst liegt in ihrer Wirkung auf den Menschen. Kunst öffnet die Augen, ist unübersetzbar und daher notwendig.

Für die beiden Hauptfiguren in Bernhards Text sind Museen Refugien vor den Zumutungen der Alltagswelt und Stätten für konzentriertes Denken und Selbstbefragungen. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Bedeutung dieser Institution heute?
Die letzten 40 Jahre waren ein einziger Museumsrausch. Nie zuvor gab es weltweit so viele Ausstellungshäuser unterschiedlicher Größe und Ausrichtung. Und kaum eine Institution hat sich in den vergangenen Jahren derart verändert wie das Museum. Mit den antiken Musentempeln (Museion) hat es bisweilen nicht mehr gemein als den Namen. Museen sind aus der Enklave des Kulturellen längst in andere gesellschaftliche Bereiche und die Unternehmenswirtschaft hineingewachsen. Doch wenn Museum, Kunst und ihr ganzes Umfeld zum profitablen Spektakel einer sich rasant ausbreitenden Kulturindustrie werden, wenn die ökonomische Wertschöpfung zu stark in den Mittelpunkt rückt, dann wird die gesellschaftliche Relevanz in erheblichem Maße aufs Spiel gesetzt — und die wichtigste Quelle, woraus Museen ihren Mehrwert schöpfen: der Zuwachs an Bildung und Erkenntnis. Je undurchdringlicher die Realität, desto größer die Konjunktur des Museums. Je schneller die äußeren Umwälzungen, desto wichtiger das Museum als Refugium der Stabilität und Sicherheit. Gerade im Zuge der Globalisierung scheint gegenwärtig wieder das Bedürfnis zu bestehen, einen Freiraum für Diskurse zu schaffen, einen Raum, in dem sich die Gesellschaft bei ihrer Entwicklung selbst beobachten kann. So wie das Museum nicht mehr als Tempel, sondern als Werkzeug kreativer Bildungsprozesse verstanden werden muss, dürfen wir an die Kunst den Anspruch herantragen, uns im Leben zu helfen, Fragen nach der eigenen Herkunft, nach Gegenwart und Zukunft aufzuwerfen und gesellschaftliche Kernkompetenzen, Toleranz, Offenheit und Empathie zu schulen — freiheitliche Werte, auf denen unsere Demokratie aufbaut. Als Archiv, Lernort und Agentur für Erfahrungsgewinn ist das Museum der Raum, an dem Fremdheitserfahrung auf besondere Weise gemacht werden kann.

In »Alte Meister« wird auch die menschliche Unzulänglichkeit thematisiert, dass wir mit Kunst nach Perfektion streben, aber es das fehlerlose oder perfekte Werk nicht gibt. Ist die Erkenntnis des Ungenügens ebenso notwendig wie die des Gelingens?
Was ist ein gelungenes, was ein missratenes Werk? Die Beurteilung von Kunst hat immer mit Geschmack, Persönlichkeit, Bildung und besonders der eigenen Biographie zu tun. Geht man mit Kindern durchs Museum, erlebt man, was es bedeutet, wenn kein langes Leben zum sinnlichen Erleben beiträgt, der unmittelbare Eindruck dadurch aber umso intensiver scheint. Kinder sehen völlig anders und viel mehr. Die unmittelbare Wirkung kann aber im Museum kein Kriterium für Wertungen sein.

Kunst ist Bernhards Figuren (Über-)Lebenselixier. Was hat Ihre persönliche Kunstbegeisterung ausgelöst?
Mich persönlich haben von Kindheit an die Persönlichkeiten hinter den Kunstwerken fasziniert. Meine Kunstbegeisterung wurzelt in den vielen, vielen Stunden, die ich mit meinem Vater Kunst angeschaut, über Kunst, Künstlerinnen und Künstler, Kulturen und Philosophie gesprochen habe. Bis heute liegt mir die Museumspädagogik am Herzen, das Vermitteln von Inhalten, Gedanken, Anliegen, die Künstlerinnen und Künstler in ihren Werken formuliert haben, mit denen sie die Welt reflektieren, uns zum Staunen, Nachdenken über uns und unser Dasein bringen, uns aufrütteln, empören oder begeistern. Was bedeutet Kunst für Sie ganz persönlich? Kunst ist für mich ein Lebensmittel, ein Lebenselixier, das mich dazu verführt, in eine andere Welt einzutauchen, das mich anregt, mich in die Gedankenwelt und Anliegen einer Künstlerpersönlichkeit oder einer Epoche, einer anderen Zeit zu versetzen. Es gibt eine Reihe Kunstwerke unterschiedlichster Gattungen und Zeiten, die mich persönlich fesseln. Ich mache hier keinen Unterschied zwischen gegenständlicher oder ungegenständlicher Kunst. Im gegenständlichen Ausdruck fesseln mich besonders Werke, in denen sich die Geworfenheit, die nichtige Eitelkeit, die Vergänglichkeit unseres Daseins spiegelt. Darstellungen des Ecce Homo, des Gekreuzigten oder barocke Stillleben sind hier Beispiele.

Welche Werke in der Ulmer Sammlung sind Ihnen besonders wert und verdienten noch stärkere Beachtung des Publikums?
Wenngleich ich in den letzten 25 Jahren im Bereich Gegenwartskunst unterwegs war, ist und bleibt meine persönliche Faszination für die Kunst des Mittelalters bestehen, für diese so ganz andere Zeit, diese vermeintlich dunkle Epoche, die doch so viele wegweisende Entwicklungen auf dem Weg in die Neuzeit hervorgebracht und in der Kunst aus einem reichhaltigen Fundus an Sinnbildern geschöpft hat. Es würde mich sehr freuen, wenn sich unsere spätmittelalterlichen Sammlungsbestände die Beachtung der Besucherinnen und Besucher teilen könnten, die mit Begeisterung das Ulmer Münster aufsuchen.

Dr. Stefanie Dathe studierte Kunstgeschichte, Ethnologie und Philosophie in Mainz, Madrid und Bonn, promovierte an der Uni Zürich und arbeitete danach als Kuratorin. 2007 übernahm sie die Leitung des Museums Villa Rot in Burgrieden. Seit 2016 ist sie Direktorin des Museums Ulm.

In Kooperation mit dem Museum Ulm und der kunsthalle weishaupt

Das Gespräch führte Dr. Christian Katzschmann.

AutorIn: Dr. Christian Katzschmann
Datum: 9.10.2019