JEDER IST SEINES GLÜCKES SCHNEIDER?

Am 3. Oktober findet die Uraufführung eines Auftragswerkes des Theaters Ulm im Großen Haus statt, das sich mit einem der berühmtesten Söhne der Stadt auseinandersetzt; zum 250. Geburtstag Albrecht Ludwig Berblingers stellen sich die Beteiligten dieser Produktion nicht nur die Frage, warum sein Flug über die Donau misslang, sondern auch, wie das Leben des erfinderischen Schneiders ausgesehen haben könnte. Und, wie viel sich in Bezug auf seine Lebens- und Arbeitsbedingungen bis heute verändert hat.

In »Berblinger, Schneider.« reflektieren Regisseurin Karin Drechsel und Autor Ulf Schmidt die beinahe legendär zu nennende Figur des »Schneiders von Ulm« und hinterfragen gleichzeitig den Blick auf die historische Person: Albrecht Ludwig Berblinger, der von 1770 bis 1829 in Ulm lebte und wirkte, erlangte traurige Berühmtheit, als er am 31. Mai 1811 beim Versuch, mit einem selbstgebauten Fluggerät von der Adlerbastei aus über die Donau zum Neu-Ulmer Ufer zu schweben, abstürzte und in den Fluss fiel. Da er in den Augen der UlmerInnen nicht nur sich, sondern vor dem Württembergischen Herzog und dem Kronprinzen auch seine Heimatstadt blamiert hatte, brachten seine MitbürgerInnen Berblinger in der Zeit nach dem gescheiterten Flugversuch wenig mehr entgegen als Spott und Hohn; der einst begeisterte Hobby-Erfinder, der unter anderem auch die erste funktionsfähige Beinprothese mit Gelenk entwickelt hatte, gab sein Interesse an Mechanik und Flugapparaten auf und bekam nun in seiner Schneiderwerkstatt am Münsterplatz immer weniger Aufträge, sodass er zunehmend verarmte. Im Jahr 1819 wurden ihm vom Magistrat der Stadt Ulm seine Bürgerrechte aberkannt, wodurch er die Ansprüche auf Eigentum und Geschäftsfähigkeit verlor und schließlich mit 58 Jahren im Armenhospiz verhungerte.

Wäre alles anders gekommen, wenn er seinen ursprünglichen Wunsch, Uhrmacher zu werden, hätte verwirklichen können? Zu einer Schneiderlehre gezwungen, arbeitete Berblinger nur nebenbei an seinen Erfindungen, was ihn beinahe seine Mitgliedschaft in der Zunft gekostet hätte und für ihn mit großem finanziellen Aufwand verbunden war. Doch auch ohne diese zusätzlichen Einschränkungen war der Schneiderberuf zu Berblingers Zeit wenig lukrativ; von seinem Gehalt konnte ein gelernter Schneider um 1800 herum gerade so Miete, Brennholz und Nahrung für sich selbst bezahlen. Ein Familienvater wie Berblinger war darauf angewiesen, dass seine Frau ebenfalls arbeitete — oder er musste selbst nebenbei anderweitig Geld verdienen. So waren für die Entscheidung, den Flugversuch vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen (Berblinger hatte seinen Gleitflieger vorher erfolgreich am Michelsberg getestet) mit Sicherheit nicht nur der Traum vom Fliegen und ein mutiger Erfindergeist, sondern auch die Aussicht auf einen großzügigen Lohn des Württembergischen Königs verbunden mit einer Anstellung am Hof als Erfinder ausschlaggebend. Umso bitterer, dass diese Träume zusammen mit Berblinger abstürzten und ihn noch dazu seiner (unfreiwilligen) Existenz als Schneider beraubten.

Auch heutzutage sind die Bedingungen in diesem Beruf nicht unbedingt als rosig zu bezeichnen: Das Einstiegsgehalt liegt — wohlgemerkt mit vollendeter Ausbildung — zwischen 1.700 und 2.200 Euro brutto. In einer Stadt wie Ulm reicht dies auch knapp 200 Jahre nach Berblingers Tod gerade so, um Miete, Heizung und Lebensmittel für eine Person bezahlen zu können. Eine Familie kann von diesem »Verdienst« niemand ernähren. Dazu kommt, dass gelernte Fachkräfte vor Ort kaum noch in eigenen Werkstätten arbeiten können; zu groß ist die industrielle Konkurrenz sowohl im In-, als auch im Ausland. Wenn man weder in der freien Wirtschaft, noch in einem privaten Unternehmen sein Handwerk ausüben möchte, bieten Theaterbetriebe (neben Kostüm-Produktionsstätten für Film und Fernsehen) mit eigenen Schneidereien die einzige Alternative. In deutschen Theatern gibt es allerdings nur wenige so genannte Meisterstellen (beispielsweise »GewandmeisterIn «) und fast ausschließlich MaßschneiderInnen, die dort jeweils entweder mit dem Schwerpunkt Damen oder Herren arbeiten; so bekleiden die meisten SchneidermeisterInnen trotz ihres erworbenen Meistertitels Stellen, die sich, was die Bezahlung angeht, im unteren Bereich des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst bewegen. Um das Handwerk am Leben zu halten und sich für die eigenen Abteilung den Nachwuchs zu sichern, bilden viele Theaterbetriebe auch junge SchneiderInnen aus: Am Theater Ulm gibt es lediglich eine solche Auszubildendenstelle, die alle drei Jahre mit einem neuen Lehrling besetzt wird, wobei die ausbildende Person dafür keinerlei finanzielle Sonderleistung erhält, obwohl sie die Ausbildung neben ihrer täglichen Arbeit durchführt.

Abgesehen von diesen Widrigkeiten bietet der Schneiderberuf am Theater natürlich auch schöne Herausforderungen, denen man sich in anderen Betrieben nicht stellen könnte: Historische Kostüme, experimentelle Schnitte und weniger übliche Stoffe oder Materialien bieten je nach Werk oder Inszenierung willkommene Abwechslungen im täglichen Betrieb, auch, wenn nicht jeder Weg zu einer Lösung einfach ist. Die Bereitschaft, Neues zu lernen und zu experimentieren, sollte — wie in allen Bereichen eines Kulturbetriebs — unbedingt vorhanden sein, wenn man das Schneiderhandwerk am Theater ausüben möchte.

Vielleicht wäre Albrecht Ludwig Berblinger heutzutage am besten in einem Theater aufgehoben, wo er auch in anderen Werkstätten seinen Neigungen als Tüftler nachgehen könnte. Als Akteur auf der Bühne läge für ihn zumindest in Ulm nach dem Beschluss des Gemeinderates von Ende November 2018 sein Einstiegsgehalt bei 2.200 Euro brutto. Und dafür müsste er vermutlich noch nicht einmal in die Donau springen.

Stefan Herfurth

AutorIn: Stefan Herfurth
Datum: 9.10.2019