DIE VORBEREITUNG ZU »EVITA« - IM RAUM DER BEHERZTEN SCHERENSCHNITTE UND FEINEN NÄHTE

Ein Tag in der Polsterei

Wenn ich an der blauen, massiven Metalltür im Werkstatt-Trakt vorbeigehe und das Wort »Polsterei« lese, habe ich gleich ein Bild vor Augen: ein mit rotem Samt überzogenes Kanapee. Nur: Bislang ist mir nicht aufgefallen, dass im Theater am laufenden Band rote Samt-Sofas zum Einsatz kommen. Hinter der Arbeit in der Polsterei muss also viel mehr stecken! Wahrscheinlich hat das etwas mit Stoffen zutun, mit Überzügen für Materialien vielleicht... Schluss mit dem Halbwissen: Heute gehe ich nicht vorbei an der Polsterei, sondern hinein!

Mein erster Eindruck: Während es nebenan in anderen Werkstätten kracht und surrt und ächzt und aus dem Montagesaal immer wieder kräftiges Hämmern zu hören ist, gibt in der Polsterei Stille den Ton an. Juliane Wiegreffe und Achim Geyer begrüßen mich. Gemeinsam mit Ruth Boeckeler bilden sie das Team der Polsterei. Auf einem Holztisch sehe ich blau-weiße Stoffzuschnitte: die Farben der argentinischen Flagge. »Das sind Bögen für das Musical ›Evita‹«, erklären mir die beiden. Wenn die Bögen in ein paar Wochen auf der Wilhelmsburg im Wind wehen, sollen sie an Flaggen erinnern. Im ersten Schritt wurden Schnittvorlagen aus Papier angefertigt. Jetzt fehlen für die zugeschnittenen Polyestertaft-Bögen noch Gardinenband und eine Holzlatte, um sie darauf zu tackern – dann können die DarstellerInnen die Flaggen ab Juni am Bühnenbild einhängen. »So eine Arbeit dauert ungefähr einen halben Tag«, sagt Achim Geyer über die Stoffbögen.

Für »Evita« stellt die Polsterei noch mehr her. Unser Blick fällt beim Gang durch die Polsterei auf eine Matratze. Mit Nesseltuch und Folie schlagen die MitarbeiterInnen den Schaumstoff dieser Matratze ein, damit das Wetter auf der Wilhelmsburg die Matratze – und damit auch die Kostüme der DarstellerInnen – nicht durchweicht. Außerdem hat die Schreinerei Kulissenwände für Container gebaut, in denen die SängerInnen ihre Kostüme umziehen werden. Die bespannt das Team der Polsterei nun mit roter LKW-Plane, denn die Umzugskabinen werden auf der Bühne zu sehen sein. 2,50 Meter hohe Hussen mit Tüll, welche die DarstellerInnen sich vollständig überziehen und dann mit einem Stab tragen werden, warten ebenfalls darauf, angefertigt zu werden. Wenn die Bleistift-Skizzen bald mit echten Materialien zum Leben erweckt werden, wird mit diesen Hussen ein buntes Figurenkabinett über die Bühne wandeln: unter anderem der Papst und die französische Flagge.

»Mit klassischer Polsterei hat unsere Arbeit nicht viel zutun«, erzählt Juliane Wiegreffe – jedoch mit allem, bei dem Stoff eine Rolle spielt. So hübschen sie beispielsweise Möbel mit Farbbezügen auf, und sie nähen Prospekte, die gerne mal das gesamte Bühnenportal ausfüllen müssen: »Wir haben den Ehrgeiz, dass es für die Theaterbühne gut aussieht.« Immer geht es auch um Stabilität, denn was sie herstellen, wird intensiv bespielt: »Zum Beispiel braucht man auf der Wilhelmsburg stabile Ösen für Fahnen und Banner, damit sie nicht zerreißen, wenn der Wind flattert.«

Die Kulissenwand mit ihren verwinkelten, schrägen Räumen in »Der Vetter aus Dingsda« haben die MitarbeiterInnen der Polsterei mit Stoff bespannt – im Montagesaal, dem riesigen Saal in der Mitte der Werkstätten. Im Malersaal bekam das stoffüberzogene Bühnenbild anschließend seine Farbe. Auch die zwei überdimensionalen Würste aus dem launig-bissigen Schauspiel »Aufstieg und Fall des Uli H.« lagen auf dem Werktisch der Polsterei. »Die Füllung der Würste bestand aus Verpackungsfolie, ihre Hülle war ein Schlauch von Bierzeltheizungen«, verrät Juliane Wiegreffe.

Oft ist es eine Zusammenarbeit und ein präzises Abstimmen mit den übrigen Werkstätten, denn jede Abteilung ist auf die Arbeitsschritte der anderen angewiesen. Als die Polsterei einen gigantischen, meterhohen Mantel für »Fabian oder der Gang vor die Hunde« anfertigen sollte, haben sie die Schneiderei nach Tipps und Schnittmustern gefragt, wie die Näherinnen dort üblicherweise einen Mantel herstellen. Erst wurden das Innenfutter und die Außenschicht im Malersaal bemalt, dann hat die Polsterei die Schnitte gesetzt, und schließlich nähten sie den Mantel zusammen. In der Polsterei geht es sowohl um große Dimensionen als auch um akribische Feinarbeit. »Am meisten Spaß macht es, wenn man selber Kreativität einsetzen kann, zum Beispiel in der Wahl des Materials«, schwärmt Achim Geyer.

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Was kommt aus diesem geringelten Schlauch, der von der Decke der Polsterei hängt, frage ich mich. »Sprühkleber, zum Beispiel für Schaumstoffe«, sagt Juliane Wiegreffe. Dazu gehört eine mobile Absaugevorrichtung, die ist wichtig zum Schutz der Atemwege, und besteht aus einer Wand mit zahlreichen kleinen Löchern. Auch ein Heizstrahler gehört zu ihren Werkzeugen: »Beim Erhitzen spannen sich Materialien besser.« Und natürlich stehen Nähmaschinen in der Werkstatt der Polsterei, mehrere, wie auch Bügeleisen, und viel, viel Kleinwerkzeug, »sowie Nessel und Molton, das haben wir immer da.«

Der Weg in die Arbeit als Polsterin oder Polsterer kann verschiedene Pfade nehmen, mal aus Leidenschaft von Beginn an, mal aus Zufall. Juliane Wiegreffe und Achim Geyer sind gelernte Raumausstatter. Achim Geyer meint: »Die Theaterarbeit fand ich interessant. Hier hat alles andere Dimensionen als in einer Wohnung.« Juliane Wiegreffe machte nach ihrer Lehre ein Praktikum an einem Berliner Theater, arbeitete dort fünf Jahre und ist seit 2015 am Theater Ulm, Achim Geyer seit vergangenem Jahr.

Ich verabschiede mich aus der Polsterei und bin mir sicher: Bei der nächsten Bühnenprobe achte ich mit geschärftem Blick auf all die Stoffe, das Vernähte, Verkleidete im Bühnenbild, denn jetzt weiß ich, dass das, worüber in der Polsterei gegrübelt wird, weit über Polster hinausgeht. Die Polsterei ist ein Fundus an Farben und Materialien – die großen und kleinen Schnitte, all das Ummantelte, Gepolsterte, Geschmückte, es entsteht hier.

 

Sie möchten sehen, wie die argentinischen Flaggen der Polsterei live aussehen? Das Musical »Evita« feiert am 7. Juni auf der Wilhelmsburg Premiere!

AutorIn: Christian Stolz
Datum: 19.02.2019