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TENOR MARKUS FRANCKE - ÜBER MUSIK UND DIE MENSCHEN IN RUSSLAND
Gerade erst war die Sowjetunion zusammengebrochen, die Lage war noch unübersichtlich. Wir alle waren Kinder der 80er-Jahre, ich kann mich an Demonstrationen gegen die Stationierung von Pershing-2-Rakten in Westeuropa erinnern. Aber auch an 'Perestroika' (Umgestaltung) und 'Glasnost' (Offenheit, Transparenz), Gorbatschows Politik in den späteren 80er Jahren.
Jetzt war Boris Jelzin Präsident. Wir hatten noch alle die Bilder im Kopf, wie er sich in Moskau auf einem Panzer den Putschisten entgegen gestellt hatte. Aber auch, wie er in der Duma Michael Gorbatschow öffentlich gedemütigt hatte.
Ich erinnern mich an alte Frauen, die ärmlich gekleidet an Straßenecken versuchten, einzelne Kartoffeln, oder einen kümmerlichen Blumenstrauß zu verkaufen. Das Innenministerium war bei unserer ersten Reise noch nicht wieder renoviert, man sah noch die Brandspuren an der Fassade, verursacht entweder durch Beschuss, oder durch bei den Kämpfen im Inneren des Gebäudes verursachten Bränden.
Und in dieser Atmosphäre der Unsicherheit und Ungewissheit machten wir gemeinsam Musik. Die Konzerte waren alle ausverkauft. Wir spielten im legendären Saal des Tschaikovsky-Konservatoriums in Moskau. Ich weiß noch, wie ich mitten in Brahms' Requiem kurzzeitig unfähig war, weiter zu singen. Ich war zu überwältigt, konnte die Tränen nicht zurück halten.
Jahre später wurde ich dann zum ersten Mal als Solist eingeladen. Putin war in seiner 2. Amtszeit als Präsident, seine Zustimmungswerte waren gewaltig. Noch konnten wir uns an die Rede erinnern, die er im Bundestag gehalten hatte, auf Deutsch. Und an das Lächeln, mit dem er die Hand ausgestreckt hatte. Nachhaltige Entspannung schien möglich, ein friedliches Europa.
Diese erste von mehreren Reisen als Solist war in vielerlei Hinsicht besonders. Mendelssohns 'Paulus' stand auf dem Programm, in Saratov an der Wolga. Wegen eines Missverständnisses verpassten wir drei Solisten – der Bariton und ich aus Deutschland, die Sopranistin aus Polen - unseren Anschlussflug in Moskau, was dazu führte, dass wir eine 15stündige Taxifahrt durch die Nacht im winterlichen Russland ins über 900 km entfernte Saratov unternahmen. In Deutschland wenig vorstellbar. Unser Fahrer, der kein Englisch sprach, pausenlos rauchte und Pistazien aß - am Morgen war der gesamt Fußraum auf der Fahrerseite mehrere Zentimeter hoch mit Schalen bedeckt - wirkte spätestens ab 1.00 Uhr morgens zu müde, um weiter fahren zu können. Er tat es trotzdem und wir erreichten Saratov gegen 11.00 Uhr.
Das Konzert fand am gleichen Tag statt, wir waren völlig übermüdet und erschöpft. Aber nicht nur deswegen wurde es unvergesslich. Der Chor war schlicht fantastisch! Großartige, volle Stimmen, hochdiszipliniert und hörbar voller Enthusiasmus!
Danach wurde stundenlang auf die Freundschaft angestoßen, Tischreden gehalten, wir haben gemeinsam gefeiert. Ja, ich hatte am nächsten Tag die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens. Aber das war es wert.
Einige Jahre später ging es wieder nach Russland, diesmal nach Kaliningrad. Inzwischen war ein gewisser Medwedjew Präsident, aber es war nie ein Geheimnis daraus gemacht worden, dass er nur Präsident von Putins Gnaden war, der sich inzwischen zum Ministerpräsidenten hatte wählen lassen. Putin ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht gewillt sein würde, freiwillig die Macht abzugeben.
Mozarts 'Requiem' und Dvoraks 'D-Dur-Messe' standen auf dem Programm.
In Kaliningrad standen wir am Grab Imanuel Kants und waren erstaunt darüber, wie klein das damalige Königsberg gewesen war.
Die Konzerte waren großartig, voller Leben. Die nachhaltigste Erfahrung war aber eine abendliche Einladung, die der Baritonkollege und ich erhielten. Eine Cellistin des Kaliningrader Orchesters lud uns zu sich nach Hause ein. Wir besorgten den Nachtisch, nichts wirklich Besonderes, aber lecker, kleine Törtchen aus einer Bäckerei. Es stellte sich heraus, dass unsere Gastgeberin zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Enkel in einer sehr kleinen Wohnung in einem Plattenbau wohnte, dessen baulicher Zustand nur als extrem mangelhaft beschrieben werde kann. Ich weiß noch, wie ich dachte, ein Haus in diesem Zustand dürfte in Deutschland nicht mal mehr betreten werden.
Sie hatte aufgefahren, was ihr möglich war, wir bekamen Pommes mit Würstchen und Ketchup, wahrscheinlich auch, weil das für ihren Enkel ein Festessen darstellte. Der Abend war schön, wir haben viel über Musik geredet; aber auch über die Situation von Musikern in Russland, vom Lebensgefühl in einer vom Militär dominierten Exklave. Die Cellistin sprach ganz gut deutsch und ich erinnere mich an einen Ausspruch: 'Armee und Wodka. Männer kaputt.' Ich weiß noch, wie hilflos ich mich gefühlt habe. Diese tapfere Frau war eine Kollegin, die alles tat, um zu überleben und die trotz der Umstände ihren Lebensmut nicht verloren hatte.
Die nächste Russlandreise ging wieder nach Moskau. Putin befand sich kurz vor Ende seiner dritten Amtszeit, nachdem er wieder zum Präsidenten gewählt worden war. Inzwischen hatte er es irgendwie geschafft, dass die völkerrechtswidrige Annexion der Krim kaum nennenswerte Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Auch seine offensichtliche Unterstützung russischer Separatisten in der Ostukraine hatten keine Folgen gezeitigt, im Gegenteil: eine weitere Gasleitung durch die Ostsee nach Deutschland wurde geplant und gebaut.
Die Einladung zu diesem Konzert war ein wenig überraschend gekommen. Das Moscow State Symphony Orchestra lud mich ein, Mendelssohns 'Paulus' in Moskau zu singen. Der Bariton und ich kamen aus Deutschland, die Sopranistin aus der Schweiz und die Altistin aus Schweden. Wir wurden im Ritz-Carlton am Roten Platz einquartiert, hochherrschaftlich.
Über 20 Jahre, nachdem ich als Chorsänger hier gewesen war, durfte ich wieder im Konzertsaal des Tschaikovsky-Konservatoriums singen, als Gastsolist eines der großen Orchester Moskaus. Vielleicht eine kurze Anmerkung zu diesem Saal. Hier wurde Musikgeschichte geschrieben. Alle bedeutenden russischen Musiker des 20. Jahrhunderts haben dort gespielt. Die Fotogalerie im Foyer jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Mit am beeindruckendsten für mich war, dass auf dieser Bühne Vladimir Horowitz 1986 sein inzwischen legendäres Moskaukonzert gespielt hat, als er nach 60 Jahren zum ersten Mal wieder in seine Heimat reiste.
Es war eine wunderbare Erfahrung, musikalisch ungewöhnlich und großartig, ein fantastisches Orchester, ein großer Chor, mit vollem, warmen Klang.
Wir hatte in den Tagen auch ein wenig Zeit, Moskau anzuschauen. Auf einer Brücke über die Moskwa, direkt am Kreml, fanden wir eine kleine, improvisierte Gedenkstätte für den ermordeten Oppositionsführer und Kreml-Kritiker Nemzov, der an dieser Stelle erschossen worden war. Obwohl das Attentat zwei Jahre zurück lag, fanden sich dort große Mengen frischer Blumen.
Weitere zwei Jahre später erhielt ich eine erneute Einladung nach Moskau, diesmal, um Bruckners 'Te Deum' an gleichem Ort zu singen. Putin befand sich inzwischen in seiner vierten Amtszeit als Präsident. Die Wahlen hatte er offiziell mit überwältigender Mehrheit gewonnen, aber die Berichte über Wahlmanipulationen in großer Zahl waren unzweideutig. In der westlichen Welt wurde das achselzuckend hingenommen, zu wichtig war Russland als Rohstofflieferant und Handelspartner. Meine Frau begleitete mich und wieder erwartete uns ein Zimmer im Ritz-Carlton. Unser Frühstück am ersten Morgen auf dem Dach des Hotels mit Blick auf den Kreml gehört zum Außergewöhnlichsten, was ich in Bezug auf Hotelverpflegung bisher erlebt habe. Ab dem zweiten Tag war das Dach dann leider gesperrt. Es stellte sch heraus, dass der chinesische Staatspräsident Xi Jinping mit seiner Delegation eine Etage des Hotels beanspruchte und das Dach ebenfalls für ihn und seine Entourage reserviert war.
Das hatte leider auch zur Folge, dass der Kreml für Besichtigungen gesperrt war, da dort offenbar versucht wurde, den Gast aus dem Reich der Mitte mit militärischen Begrüßungsritualen zu beeindrucken.
Das Konzert war unvergesslich. Diesen Tenorpart an diesem Ort singen zu dürfen, war ein Traum. Und wieder habe ich Erinnerungen an 1800 Menschen, die an der Aufführung aufmerksam und voller Begeisterung Anteil nahmen.
Ich habe auf meinen Reisen nach Russland leidenschaftliche, hingebungsvolle Musiker kennengelernt, ich habe ein Publikum erlebt, wie man es sich nur wünschen kann, interessiert, aufmerksam und emotional beteiligt. Ich habe Menschen kennengelernt die in prekären Verhältnissen ausharren und nicht den Mut verlieren, sondern versuchen, trotz allem ihr Leben für sich und ihre Kinder so gut wie eben möglich zu gestalten. Menschen, die vor Kreativität und Energie strotzen, hilfreich, interessiert, wach und mutig.
Und jetzt hat Putin den konsequenten Schritt in Richtung größenwahnsinniger Diktator gemacht, den er über all die Jahre vorbereitet hat. Nicht nur die Musiker in Russland, alle Teile der Bevölkerung, vielleicht von ein paar wenigen Superreichen abgesehen, sehen sich wegen ihm mehr den je mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert. Menschen in der Ukraine werden auf seinen Befehl hin abgeschlachtet, auf Befehl Putins, der eine Clique von Oligarchen und Ewiggestrigen um sich geschart hat, die ihn und sein System stützen.
Vor Jahren habe ich bei Konzerten in Amsterdam und Paris eine ukrainische Kollegin kennengelernt, die in der Schweiz lebt und nie müde wurde, auf die Grausamkeiten, die im Osten der Ukraine geschehen, aufmerksam zu machen und auf die drohenden Gefahren hinzuweisen. Sie wirkte manchmal wie ein weiblicher Don Quixote. Es bricht einem das Herz, zu sehen, dass die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden sind.
Ich wünsche Maryna, ihrer Familie und ihrem Land alles erdenklich Gute. Auf dass dieser Wahnsinn bald ein Ende finden möge.«
Markus Francke, 01.03.2022