ZEHN, EINS, ZWEI — EIN (LEIDER?) FIKTIVES PROBENPROTOKOLL

Adventszeit im Theater Ulm. In der Pakethalle 1 proben drei Schauspielerinnen, fünf Schauspieler, eine Souffleuse und ein Regieassistent mit einem Ausstatter und einem Regisseur die Komödie »Eins, zwei, drei« von Ferenc Molnár. Darin will der geschäftige Bankpräsident Norrison den bettelarmen Taxi-Chauffeur Anton in einen wohlhabenden und repräsentativen Ehemann für Lydia, die seit einem halben Jahr bei Norrison lebende Tochter eines befreundeten Geschäftsmannes, verwandeln. Das Ganze soll innerhalb einer Stunde geschehen.

Es geht also um Tempo, schnelle Auf- und Abtritte, und die Komik eines eigentlich unmöglich erscheinenden Unterfangens. Denn man hat ja KEINE ZEIT! Ganz ähnlich also dem Probenalltag im Theater.

Wie eine typische Vormittagsprobe dieser Produktion aus der Sicht des betreuenden Dramaturgen (nicht) abläuft, können Sie im folgenden, zu einhundertfünfzig Prozent ausgedachten Protokoll lesen:

 

9:36 Uhr Es ist Montag, das sollte bereits jegliche Beschreibung der vorherrschenden Laune überflüssig erscheinen lassen. Der Vollständigkeit halber sei dennoch erwähnt: Sie ist schlecht. Die Laune. Die Motivation glänzt durch Abwesenheit. Also die Motivation, zur Probe zu gehen. Die Motivation, zurück ins Bett zu kriechen, ist dagegen hoch. Denn die Probebühne ist kalt und die Probedauer ist vier Stunden. Und man sitzt ja bereits einige Zeit im Büro. Aber wie besagt eine bajuwarische Weisheit: »Hüift ja nix!« Also los, die Hände von der Tastatur, den Hintern vom Schreibtischstuhl bewegen, sich in Schal, Mantel und Handschuhe packen, die Textfassung, ein Notizbuch und einen Druckbleistift schnappen und circa fünf Minuten sibirische Kälte auf dem Weg vom Theater zur Pakethalle neben der Post ertragen.

9:50 Uhr Ankunft an der Pakethalle. Nun könnte man aus dem Ulmer Winterfrost in die zumindest gemäßigte Kühle der Probebühne treten, würde man nicht von rauchenden SchauspielerInnen abgefangen, die noch über irgendetwas sprechen wollen. Also harrt man doch noch gemeinsam aus und friert. Bis das erlösende, wie inszeniert synchron passierende Wegwerfen der fertiggerauchten Kippen endlich und kommentiert durch ein beherztes »na, dann« das Zeichen zum Öffnen der Türe gibt.

9:57 Uhr An der langen, aus zwei abgefressen wirkenden Tischen zusammengesetzten Tafel im Probenraum sitzen bereits Regisseur, Regieassistent und Souffleuse. Der Ausstatter hat Anprobe im Theater. Nach dem allgemeinem »Morgen. — Guten Morgen«-Genuschel, währenddessen die DarstellerInnen sich in ihre Probenkostüme begeben, nehmen alle um den Tisch herum Platz. Im Hintergrund wartet das aus zusammengeschraubten Brettern unterschiedlicher Farbe angedeutete Bühnenbild geduldig darauf, bespielt zu werden.

10:08 Uhr Eine auf dem Probenplan angegeben gewesene Szene wird gelesen, der Regisseur geht immer mal wieder dazwischen. Einer der Schauspieler liest mit sturer Konsequenz einen bestimmten Halbsatz auch bei der zweiten Wiederholung anders ab, als er im Text steht. Also macht man sich — unverabredet parallel mit der Souffleuse — eine Notiz auf der entsprechenden Seite. Eine Schauspielerin verliest sich und dreht die Anfangsbuchstaben zweier aufeinander folgender Worte unabsichtlich um, was zu einem obszönen Ausdruck führt. Großes Gelächter bei allen am Tisch, der Regisseur lacht am lautesten und längsten; er schlägt vor, diesen Versprecher unbedingt einzubauen, weshalb die Szene noch einmal von vorne gelesen wird. Der Schauspieler mit dem Halbsatz liest ihn richtig und kommentiert sogar, dass der Satz im Text ja ganz anders stünde. Hektisches Radieren bei Souffleuse und Dramaturg. Bei der Textstelle mit dem Versprecher angelangt, vergisst die Schauspielerin, die Anfangsbuchstaben zu vertauschen, was in diesem Moment noch komischer wirkt. Im allgemeinen Lachanfall regt der Regisseur an, die Rolle solle einfach permanent »Wechstaben verbuchseln«. Unter Prusten und Quietschen wird die Szene weitergelesen, die Schauspielerin müht sich mit Silben und Worten, als lese sie eine fremde Sprache.

10:31 Uhr Motiviert durch den Spaß des Szenenlesens und einen entsprechenden Aufruf des Regisseurs stürmen Spielerinnen und Spieler in das Probebühnenbild, um das eben Gelesene szenisch auszuprobieren. Dabei stehen zunächst erst zwei Schauspieler auf der Bühne, das restliche Ensemble wartet hinter den vier Türen des Bühnenbilds auf die jeweiligen Auftritte. Der Regieassistent sucht auf seinem an einen Lautsprecher angeschlossenes Smartphone kurz nach der richtigen Musik, bevor auf ein Zeichen des Regisseurs der Anfang der Szene beginnt.

10:50 Uhr Obwohl dieser Teil der Szene schon einmal mit den beiden Darstellern geprobt und jede Menge Verabredungen für den Ablauf getroffen wurden, unterbricht der Regisseur nach wenigen Sätzen: Einer der beiden Schauspieler musste aufgrund eines Texthängers improvisieren, was ungleich komischer als der ursprüngliche Text wirkte. Der Regisseur beschließt, den improvisierten Text zu verwenden, wobei ihm gleichzeitig eine neue Körperhaltung für den betreffenden Schauspieler einfällt, die er — erneut einen Lachanfall unterdrückend — vorführt. Kollektives Gelächter. Die Szene beginnt von vorn. Begünstigt durch die ihm eigene Körperlichkeit sieht die neue Haltung des Schauspielers erstens anders als beim Regisseur und zweitens noch komischer aus, was seinen Kollegen aus der Konzentration bringt. Die Szene muss abermals von vorn begonnen werden. Der Regisseur springt allerdings erneut auf die Bühne, da sich für den zweiten Schauspieler durch die Haltung seines Kollegen nun andere Wege über die Bühne ergeben. Gemeinsam versuchen alle drei, dieser Problematik beizukommen. Souffleuse, Regieassistent und Dramaturg mischen sich in die Diskussion ein.

11:24 Uhr Endlich sind alle Gänge, Pausen, Textänderungen und Haltungen für den Anfang der Szene durch kleinteiliges Aufdröseln geklärt. Die Szene startet erneut von vorn. Mitten in einer inszenierten Sprechpause läuft hinter den beiden Schauspielern der Ausstatter auf die Bühne, erschrickt, als er bemerkt, dass geprobt wird, und hastet hinter einen Teil seines Bühnenbilds. Ein in dieser Heftigkeit noch nie zuvor dagewesener Lachanfall schüttelt gleichermaßen Regisseur, Assistenten, Souffleuse und Dramaturgen. Die beiden Schauspieler gucken sich verdutzt zum Regietisch um, da sie vom unfreiwilligen Auftritt des Ausstatters nichts mitbekommen haben. Der Regisseur ist begeistert und instruiert seinen Assistenten sofort, einen der für die Produktion eingeteilten Statisten an dieser Stelle für einen »falschen Auftritt« ins Regiebuch zu schreiben. Dieser wird nicht noch einmal wiederholt, die Szene läuft weiter, nachdem sich der Ausstatter mit hochrotem Kopf an den Tisch gesetzt hat.

11:41 Uhr Kurz vor dem kollektiven Auftritt des restlichen Ensembles ereilt den Regisseur eine neue Idee für einen der beiden Schauspieler, die er noch schnell ausprobieren möchte.

12:07 Uhr Die Stelle, an der das übrige Ensemble auftritt, ist nach neuerlichem Beginn der Szene erreicht. Im entscheidenden Moment reagiert das Smartphone des Regieassistenten nicht, weshalb die geplante Auftrittsmusik für das Ensemble nicht ertönt. Der auf die Musik choreographierte Auftritt, der zwar synchron vom Ensemble, aber nun stumm durchgeführt wird, beeindruckt den Regisseur nachhaltig, sodass spontan die an dieser Stelle festgelegte Musik gestrichen wird. Natürlich gelingt der synchronisierte Ensemble-Auftritt beim nächsten Versuch ohne Musik nicht; den Schauspielerinnen und Schauspielern fehlt der Rhythmus. Der Regisseur zeigt sich verwundert, immerhin habe es doch eben auch geklappt! Der Assistent schlägt vor, die Musik im Off leise laufen zu lassen, was prompt probiert wird. Die Musik ist für die Darstellerinnen und Darsteller nicht zu hören. Sie wird lauter gestellt, mit demselben Ergebnis. Erneut wird die Lautstärke angehoben, bis es für die Auftretenden funktioniert. Nun ist die Musik aber wieder am Regietisch zu hören und der Effekt dahin. Der Regisseur kratzt sich am Kinn, fährt sich durch die Haare. Schließlich versucht er den Auftritt selbst ohne Musik; es gelingt ihm auf Anhieb. Lachanfall mittlerer Stärke bei Dramaturg und Regieassistent. Mit gespieltem Unverständnis blickt der Regisseur sein Ensemble an, das ebenfalls lachen muss. Er versucht, nachzuvollziehen, was er anders gemacht haben könnte, wobei sich herausstellt, dass er den Rhythmus der Musik in einer nicht unkomplizierten Abfolge von Schritten und Hopsern mit seinem Körper imitiert hat. Er verlangsamt den Ablauf für das Ensemble, das interessiert zusieht. Nach einigen konzentrierten Schrittabfolgen wird dem Regisseur bewusst, dass niemand mitmacht, weshalb er sein Ensemble etwas unwirscher darum bittet. Alle Schauspielerinnen und Schauspieler, auch die zwei Herren, die den Anfang der Szene bestreiten, beeilen sich, die neuere, kompliziertere Choreographie nachzuahmen. Dies wiederum stößt bei den am Regietisch verbliebenen Personen auf Erheiterung, was die Konzentration auf der Bühne negativ beeinflusst. Als geklärt ist, wer alles an der choreographischen Probe teilnimmt, wer dabei redet und wer sich stumm freuen darf, ist es plötzlich um eins.

13:00 Uhr Der Regieassistent macht darauf aufmerksam, dass für den nächsten Tag ins Theater noch ein Probenplan durchgegeben werden muss. Ein Schauspieler merkt an, dass außerdem noch keine Pause gemacht wurde. Der Regisseur verkündet also, es gäbe nun eine viertelstündige Pause, in der er mit dem Assistenten den Probenplan machen werde. Allerdings brauche er auch einen Kaffee. Der Regieassistent guckt unschlüssig zwischen ihm und der Wochenübersicht mit den Sperrterminen des Ensembles hin und her. Er zuckt die Schultern und scheint nicht vor, nicht zurück zu wissen. Als pflichtschuldiger Dramaturg bietet man sich daraufhin gerne an, aus dem eigens dafür angeschafften Vollautomaten sowohl für sich, als auch für den gestressten Regisseur ein Heißgetränk zu ziehen. Ein Schauspieler verkündet mit der zum Anzünden bereiten Zigarette im Mundwinkel beim in seinen Wintermantel Schlüpfen, die Kaffeemaschine sei wieder einmal nicht gereinigt worden, dass müsse erst jemand erledigen, er sehe es jetzt einfach nicht mehr ein. Also fügt man sich in sein Schicksal.

13:25 Uhr Nach beinahe endlos erscheinendem Widersetzen der Reinigung inklusive großzügigen Anspritzens mit hellbrauner Brühe des vor ihr Stehenden lässt sich die Kaffeemaschine doch noch dazu überreden, zwei »Cafe Creme« in gerade noch rechtzeitig bereitgestellte Tassen zu spucken. Die Probe kann weitergehen, die Szene wird von vorn begonnen. Bis auf einen neuerlichen Einfall des Regisseurs, der einen Rollennamen akustisch falsch versteht und daraufhin gemeinsam mit dem entsprechenden Darsteller die Rolle als Persiflage auf einen exzentrischen Schauspieler des letzten Jahrhunderts anlegt, läuft die Szene flüssig durch. Sie ist weitaus komischer, als bei der Probe zuvor und ungefähr eintausendmal mehr, als beim ersten Lesen des vom Autor erdachten Texts.

14:00 Uhr Die Probe ist beendet. Mittagspause.


Stefan Herfurth

AutorIn: Stefan Herfurth
Datum: 1.02.2020