»WENN DIE SYMBIOTISCHE ZEIT ENDET …« — EIN GESPRÄCH ÜBER PAARBEZIEHUNGEN IN DER KRISE ANLÄSSLICH DER URAUFFÜHRUNG VON HENRIETTE DUSHES »SPRACHLOS DIE KATASTROPHE IM BEREICH DER LIEBE«

Wie teilen wir uns Zuneigung mit, Liebe, aber auch das Schwinden der Gefühle, Unverständnis und Aversion? Unsere Sprache stellt eine Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten bereit, wenn ein Gefühl das andere ablöst, danach folgt nur mehr das bedrückend beredte Schweigen. Aus dem schier unerschöpflichen Reservoir an Worten und Sätzen — ob viel- oder nichtssagend, Floskel, Phrase, Weisheit oder alles in einem — über das im Grunde Unsagbare, dass die Liebe vergehen kann, konstruiert Henriette Dushe ein wehmütig feinfühliges Gedanken-, Sprech- und Spielexperiment für zwei Akteure. Diese nutzen den Fundus der Sprache der (Nicht-mehr-)Liebe, um den Abgesang eines Paares auf die zusammen verbrachte Zeit zu formulieren. Um der Sprachlosigkeit trotz enttäuschter Hoffnungen und Erwartungen zu entgehen, entsteht durch das Sortieren von Erinnerungen und bedeutungsvollen wie lapidaren Stichworten im Zwiegespräch aus vielen einzelnen Partikeln das Mosaik einer Liebesgeschichte. Vom vorsichtigen Entdecken bis zum schmerzlichen Verlieren wird das Miteinander eines Paares in Erinnerungsarbeit und (Körper-)Sprache erfahrbar, als eine zunächst Glück, dann im katastrophalen Scheitern Apathie und Melancholie auslösende Begegnung.


Nach »Lupus in fabula« stellt das Theater Ulm mit »SPRACHLOS Die Katastrophe im Bereich der Liebe« erneut einen Text von Henriette Dushe vor, in dem Menschen eine Wegscheide ihrer Existenz versuchsweise in Sprache und Aktion ausagieren. Chefdramaturg Dr. Christian Katzschmann sprach über das Stück und konfliktträchtige Paarbeziehungen mit der Ulmer Paartherapeutin Claudia Weissinger-Sonntag.

 

Christian Katzschmann In »Sprachlos« wird die Beziehung zweier Menschen in Erinnerungspartikeln geschildert als Verlaufsgeschichte mit euphorischem Beginn, Desillusionierung, Konflikten und Trennung. Erkennen Sie Vieles im Stück aus Ihrer beruflichen Praxis wieder?

Claudia Weissinger-Sonntag Als sehr nah an der Wirklichkeit empfinde ich die Darstellung der Phasen der Paarbeziehung: die erste Begegnung mit der darin liegenden Überraschung, Anziehung, das Sich-Kennenlernen und das Umgehen mit kritischen Lebensereignissen, besonders mit dem Verlust des Kindes. Diese Entwicklung, wenn wir die jeweiligen persönlichen Eigenschaften nach der anfänglichen Phase der Verliebtheit genauer entdecken, fand ich überaus realistisch erfasst. Ebenso die Aussagen, in denen Distanz und entstehende Fremdheit zum Ausdruck kommen, wenn die Unterschiedlichkeit, die jeder in die Beziehung hineinbringt, nicht mehr als Bereicherung empfunden wird, sondern zunehmend als nervend und anstrengend.

Christian Katzschmann Es werden im Stück — diskontinuierlich, nicht chronologisch — vom Paar selbst Phasen der Beziehung rekapituliert, insbesondere auch die Desillusionierung und das Auseinanderstreben der Partner. Beschreibt das Stück eine nahezu unweigerliche Beziehungssystematik?

Claudia Weissinger-Sonntag Die Phase der Verliebtheit, in der wir empfinden, wir seien einander so ähnlich in unseren Vorlieben und Wünschen, dass wir am liebsten die gesamte verfügbare Zeit miteinander verbringen, alles teilen wollen, wird in jeder Beziehung verschieden lang erlebt. Doch zwangsläufig spüren wir — ob nun nach Wochen, Monaten oder einem Jahr der Gemeinsamkeit — intensiver die Differenzen. Wenn die symbiotische ›rosa‹ Zeit endet und es uns nicht gelingt, Verschiedenartigkeit in der Partnerschaft zu akzeptieren, Unterschiede anzuerkennen, gar zu schätzen, wird das Licht des euphorischen Beziehungsanfangs (wie es das Stück auch beschreibt) abgelöst durch einen Schatten, der sich über das gemeinsame Erleben legt. Statt der freudvollen Nähe überwiegen dann allmählich Distanz und Sprachlosigkeit, entwickeln sich bei den Partnern Fluchttendenzen aus der Beziehung.

Christian Katzschmann Welche Fluchttendenzen sind das?

Claudia Weissinger-Sonntag Paare, die sich entwickelnde Konflikte wahrnehmen, versuchen zunächst oft, sich gemeinsam aus einer solchen problematischen Situation zu lösen, indem sie Abstand zum Alltag herstellen. Als Ursache der Beziehungskrise werden schwierige äußere Einflüsse erkannt, die uns womöglich auseinanderbringen. Und als Lösungsmöglichkeit versuchen wir, uns von diesen Einflüssen (vorübergehend) zu befreien: Wir suchen Oasen für die Beziehung. Im Stück ist das die Reise, die das Paar unternimmt. Die Idee ist, irgendwohin zu gehen, wo es einem miteinander vielleicht besser geht, allein durch den zeitweisen Ortswechsel. In der Regel wird die Rückkehr in die Normalität aber nach einer solchen Ausflucht noch härter, auch das skizziert das Stück sehr genau, weil die persönlichen beziehungsinternen
Probleme meist weiterhin nicht gelöst sind.

Christian Katzschmann Sind bestimmte Probleme in der partnerschaftlichen Kommunikation besonders häufig und gravierend?

Claudia Weissinger-Sonntag Viele dieser Probleme finde ich im Stück wieder. Tatsächlich höre ich von Frauen in meiner Praxis oft das Bedürfnis: »Würde er doch endlich mit mir öfter und ausführlicher reden, dann würden wir uns besser verstehen.« Und aus der männlichen Perspektive klingt das häufig so: »Würde sie weniger reden und könnten wir stattdessen mal wieder zusammen Dinge pragmatisch anpacken, dann kämen wir weiter.« Frauen suchen oft über den verbalen Austausch Nähe, Männer hingegen streben über das praktische gemeinsame Handeln und das Gefühl, dass zusammen etwas gelingt, nach Nähe. Wenn wir Nähe auf die Intimität beziehen, ergeben sich auch Differenzen in der Wahrnehmung. Egal ob es zärtliche Wörter oder körperliche Zärtlichkeiten sind, die Frauen, die ich in meiner Praxis erlebe, beschreiben es in der Regel so: »Mir muss erst das Herz aufgehen, bevor die Lust kommt.« Männer schildern es eher umgekehrt, dass über die lustvolle Begegnung emotionale Tiefe entsteht und bestärkt wird. Das sind durchaus nicht Klischees, sondern ›energetische‹ Unterschiede in der geschlechtsspezifischen Art und Weise, zu fühlen, zu denken und zu handeln, mit denen wir miteinander in einer Beziehung umgehen müssen.

Christian Katzschmann Wenn diese Unterschiede nicht mehr überbrückt werden können und es zu Abwehrreaktionen, Blockaden kommt, zu auch gewaltsamer Distanzierung, welche Optionen bestehen dann überhaupt noch für eine Beziehung?

Claudia Weissinger-Sonntag Um ein Miteinander in oder nach der Krise zu bewahren oder wiederherzustellen, muss (auch als Voraussetzung für jeglichen therapeutischen Ansatz) zuerst unbedingt die verbale oder körperliche Gewalt aufhören. Sonst bleibt es ein Zyklus von Verletzungen. Innerhalb einer Dynamik von Machtausübung, Ohnmacht und Hilflosigkeit kommt man nicht weiter. Wir müssen Wege der Deeskalation finden für beide Partner. Wichtig ist für eine Krisenbewältigung vor allem das Bewusstsein für das eigene Konfliktpotential und die Bereitschaft, das zu vermindern oder aufzulösen. Im Stück sind es beispielhaft die Bulimie oder die Ausbrüche von Gewalt, in denen die seelische Krise eskaliert.

Christian Katzschmann An das Sprechen miteinander über die jeweiligen positiven und negativen Gefühle in einer Beziehung gibt es unterschiedliche Erwartungen. Nicht nur in der Krise zeigt sich aber oft im Miteinander die Unfähigkeit, sich adäquat auszudrücken, sich verständlich zu machen, welche Bedürfnisse und Irritationen bestehen. Wie lassen sich Sprachlosigkeit und Missverständnisse überwinden in der beiderseitigen Kommunikation?

Claudia Weissinger-Sonntag Das Stück benennt diese Probleme sehr genau. Es gibt einerseits, bei der Frau, die Bitte, mehr mit ihr zu reden, sich stärker mitzuteilen. Auf der anderen Seite, beim Mann, besteht der Wunsch, sie möge akzeptieren, dass er im Moment gerade nicht über bestimmte Themen sprechen kann und will. Es gibt hier ein unterschiedliches Maß, Tempo, sich auszudrücken. Diese Verschiedenartigkeit des Ausdrucksbedürfnisses und -vermögens wahr- und anzunehmen, ist äußerst wichtig. Beispielsweise, und auch dafür gibt es im Stück treffende Passagen, geht es darum, gerade konfliktträchtige Themen nicht zu ausführlich und wiederholt zu besprechen, wenn sich gerade keine Lösung abzeichnet. Das kann deeskalierend wirken.

Christian Katzschmann Sind Ihnen beim Lesen des Stücks auch positive Beziehungsanteile des Paares in »Sprachlos« aufgefallen?

Claudia Weissinger-Sonntag Für die paartherapeutische Arbeit ist die Sicht auf den Anfang der jeweiligen Beziehung besonders wichtig. Daher ist für mich auch die kurze Erwähnung der ersten Begegnung des Paares im Stück interessant, wenn er sie auf der Bank vor dem Haus sitzen sieht. Wie von diesem zufälligen ersten Moment des Zusammentreffens erzählt wird, mit welchen Worten, Einzelheiten, verschiedenen Attributen, das macht in ähnlicher Weise wie in meiner therapeutischen Praxis deutlich, was die Sehnsüchte sind und die wichtigen Lebens-Themen, die in dieser Beziehung gesucht wurden.

Christian Katzschmann Von beiden Partnern wird im Stück auch eine gemeinsame Fahrradfahrt beschrieben, bei der eine emotionale Freiheit möglich war durch das Miteinander …

Claudia Weissinger-Sonntag Ja, in diesen Details sind Paarbeziehungen wirklich hochspannend: wo wachsen beide Partner miteinander über das hinaus, was der Einzelne sich nicht erschlossen hätte. Und zugleich deutet sich hier auch ein Akzent von Beziehungen an, der ebenso in der Praxis vorkommt: Wo hätte jeder für sich vielleicht mehr Potential, das aber miteinander nicht zu erschließen ist. Das eine erzeugt viel Nähe und Verbundenheit, das andere das Gefühl, dass ich in einer Beziehung nicht alle Bedürfnisse stillen, Potentiale ausschöpfen kann. Diese Zweifel führen dazu, uns selbst und den Partner realistisch zu sehen. Denn mit der Definition von Liebe im Sinne von »Du bist alles für mich, ich bin alles für dich« geht es immer schief. Oder es wird eine endlose Suche nach dem oder der ›Richtigen‹. Auch in Langzeitbeziehungen gibt es immer wieder Phasen neuerlicher Verliebtheit, aber die Basis einer langen Partnerschaft ist aus meiner Sicht Freundschaft im Sinne tiefer Verbundenheit. Keine Beziehung auf Dauer besteht allein aus Anziehung, Leidenschaft, Lust und Abenteuer, sie ist partnerschaftliche Teamarbeit auch im Alltag mit manchmal lästigen und öden Aufgaben. Wer das nicht voraussieht, wird zwangsläufig enttäuscht. Denn in der Regel leben wir mehr Alltag als Abenteuer. Den Alltag mit Überraschungen aufzuwerten, aufmerksam füreinander zu bleiben, das ist die Aufgabe, vielleicht auch Abenteuer neu zu schaffen für die Beziehung.

Christian Katzschmann Ist ein Stück wie »Sprachlos« aus therapeutischer Perspektive lehrreich für lernwillige Menschen vor, in oder nach Beziehungen?

Claudia Weissinger-Sonntag Bei bestimmten wichtigen Szenen und Sätzen werden sich mit Sicherheit Paare im eigenen Sprechen und Verhalten wiedererkennen, im insistierenden Fragen nach der Liebe oder in den hochemotionalen Situationen, in denen dringliche Sehnsüchte spürbar werden und heftige Enttäuschungen. Jede längere Beziehung kennt Augenblicke, in denen Streit und Konflikte eskalieren. Natürlich sind diese Lebensmomente im Stück sehr komprimiert, doch es werden hier Themen angesprochen, die immer wieder in der Paartherapie wichtig sind: dass wir unterschiedliche Sprachen haben, verschiedene Sprachen insbesondere der Liebe, das Thema auch von Nähe und Distanz, der Umgang mit heftigen unangenehmen Gefühlen, gravierenden Lebensereignissen, die Möglichkeiten, Destruktivität zu stoppen und Positives auch wieder im gemeinsamen Alltag zurückzugewinnen. Diese Themen-Fülle in verdichteter Form ist eindrucksvoll, das darstellerisch zu erfühlen, zu zeigen, zu verkörpern, wird sicher für die Schauspieler eine enorme Leistung. Das geht ja nicht anders, als auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen, was ein intensiver Vorgang ist. Auch ich als Therapeutin beziehe ja mein persönliches Erleben, meine individuellen Kenntnisse bestimmter Lebenslagen in die Arbeit mit ein. Ich glaube, dass darin das Besondere und Verwandte dieser beiden Ebenen liegt: Wir beschäftigen uns und unterhalten uns mit Menschen über Wesentliches für das Leben, intimste Beziehungen, Aspekte, die dauerhaft und immer wieder das Dasein prägen.

 

Claudia Weissinger-Sonntag ist als approbierte Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche ebenso wie als Systemisch-Integrative Paartherapeutin seit nahezu zwei Jahrzehnten in eigener Praxis in der Ulmer Stadtmitte tätig.

AutorIn: Dr. Christian Katzschmann
Datum: 1.02.2020