MORD DURCH WORT: SINFONIEKONZERT NACH EINER WAHREN BEGEBENHEIT

»Ich sagte: Weg damit. Sofort.« Die Stimme des jungen Mannes zitterte ebenso sehr wie die Hand, mit der er die Pistole hielt. Der kahle Mann im Mantel, gerade eben noch im Begriff, seine Zigarre anzuzünden, ließ mit weit aufgerissenen Augen das Streichholz fallen. »Niemand zündet hier irgendetwas an«, kreischte der junge Mann mit den wilden Haaren und dem wilden Blick: »Der Waggon ist voller Dynamit!« Wenig später hatten Sicherheitskräfte die zitternden Hände des jungen Komponisten Hans Rott auf dem Rücken zusammengebunden und ihn in Richtung Psychiatrie abgeführt.

Mit einem Seufzen ließ Ermittler Erler die Aufzeichnungen des Augenzeugenberichts sinken. Drei Jahre war das nun her, und Erler hätte nicht gedacht, dass er die Akten des skurrilen Vorfalls nochmal würde lesen müssen. Doch inzwischen war Hans Rott tot – und auf der Straße munkelte man von Mord. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass jeden Moment Gustav Mahler hier in Erlers Büro mit jenem Mann auftauchen sollte, der behauptete, den Mörder zu kennen. Mahler, schon wieder. Der hatte dem Ermittler damals schon in den Ohren gelegen, dass man den Rott nicht zu hart anfassen dürfe. Rott sei ein Genie, hieß es, Rott habe schon mit 20 eine Musik geschrieben, die ihn zum »Begründer der neuen Sinfonie« gekrönt habe. 

Es klopfte an der Tür. Wie immer energisch, ohne auf Erlaubnis zu warten, trat der drahtige Mahler in den Raum und rang sich eine kurze, höfliche Begrüßung ab. Hinter ihm erschien ein sichtlich nervöser Mann mit stechenden dunklen Augen unter zusammengezogenen Augenbrauen, die ihm ein gequältes Aussehen verliehen. »Es war Brahms«, platze es aus Hugo Wolf heraus, kaum dass er sich dem Ermittler vorgestellt hatte. »Brahms hat Rott getötet.« Johannes Brahms? Derselbe Kollege, den Rott damals verdächtigte, den Bahnwaggon mit Sprengstoff präpariert zu haben? Ermittler Erler war sich sicher, dass die beiden keinen persönlichen Kontakt mehr hatten, die Besucherbücher der Klinik hätten dies gezeigt. »Das war auch nicht nötig«, bemühte sich Wolf, zu erklären. »Brahms hat Rott schon Jahre vor dessen Tod ermordet! Brahms wusste genau um die Bedeutung einer ersten Sinfonie. Er selbst hat ja 15 Jahre für seine eigene gebraucht! Kaum rangetraut hat er sich, aus Angst vor der Kritik, immer nur orchestrale Vorarbeiten veröffentlicht, Konzerte, Serenaden. Und ausgerechnet dieser große Herr Sinfoniker zerstört ein junges Talent, zieht seine Kompositionen in den Dreck, statt ihn für ein Stipendium zu empfehlen. Dieses künstlerische Urteil war ein Todesurteil!«

Mahler und Erler wechselten einen vielsagenden Blick; beiden war am Gesicht abzulesen, dass sie sich stichhaltigere Beweise erhofft hatten. Wolf schien die Skepsis zu wittern. Wortlos verließ er den Raum, die Tür lauter als nötig hinter sich zuschlagend. »Wolf geht es nicht gut«, sagte Mahler entschuldigend. »Das Gehör, verstehen Sie?« Erler verstand nicht. Wurde Wolf etwa taub, wie Beethoven? »Im Gegenteil, Herr Erler, Kollege Wolf ist hochsensibel. Es ist ein Fluch. Jedes Geräusch, das nicht Musik ist, ist zu viel. Neulich hat er sich auf einer Zugfahrt Brot in die Ohren gestopft, so tief, dass die Ärzte es wieder entfernen mussten.«

Zurück im privaten Separée neben seinem Büro ließ sich Erler in den lederbezogenen Ohrensessel fallen. Keine Spur von Dynamit hatte man seinerzeit im Bahnwaggon gefunden. Hatten die Kollegen damals geschlampt? Aber selbst wenn Brahms seinen Kollegen tot sehen wollte – hätte es da nicht sicherere Methoden gegeben? Mord durch Wort … Selbst wenn etwas Wahres daran war, würde er nie einen Ankläger finden, der sich darauf einlassen würde, einen so dünnen Fall vor Gericht zu bringen. Da riss ein Rascheln den Ermittler aus seinen Gedanken. Zu seinem Erstaunen fand er im Vorzimmer noch immer Mahler vor, die runde Brille von der Nase genommen, die Stirn keine fünf Zentimeter entfernt von dem handbeschriebenen Papierbögen voller Noten aus dem Nachlass von Hans Rott, den man Erler für seine Ermittlungen komplett übergeben hatte. »Was wird nun aus Rotts Partituren?«, fragte Mahler. »Die Behandlung der Bläser, die Rolle des Schlagwerks, diese Tänze .... das ist die Zukunft der Sinfonie!« Mit einem Handzeichen bedeutete Erler dem Komponisten, die Papiere mitzunehmen. Fast grußlos machte sich Mahler damit hinaus in die bereits angebrochene Nacht. Der Ermittler griff in ein Kästchen auf seinem Schreibtisch und steckte eine Zigarre in den Mund, während er am Fenster seinen Gast schnellen Schritts über die Straße verschwinden sah. »Da geht sie also«, murmelte Erler, während der Feuerschein des Streichholzes sein Gesicht in der Spiegelung der Fensterscheibe aufleuchten ließ. »Da geht sie, die Zukunft der Sinfonie in den Händen von Gustav Mahler.«

AutorIn: Diane Ackermann
Datum: 31.10.2018