IM RAUBTIERKÄFIG: JAPSER BRANDIS INSZENIERT »ZEIT DER KANNIBALEN«

Es passiert nicht jeden Tag, dass eine neue Spezies in unserem Ökosystem erscheint. Die neoliberale Wende der 1970er und 1980er Jahre jedoch brachte bislang ungekannte Wesen hervor: die Berater. Ihr natürlicher Lebensraum: die Konferenztische und VIP-Lounges ihrer internationalen Einsatzorte. Ihr Futter: Bezahlung, Beförderung und was immer der Room Service hergibt. Dieser speziellen Sorte Mensch setzten Drehbuchautor Stefan Weigl und Regisseur Johannes Naber ein Denkmal mit dem 2014 erfolgreich auf der Berlinale vorgestellten, 2015 beim Deutschen Filmpreis mehrfach ausgezeichneten Film »Zeit der Kannibalen«. Doch schnell eroberte das wunderbar bissige, bösartige Kammerspiel auch die Schauspielbühnen — ab dem 12. Januar ist es im Podium des Theaters Ulm zu sehen.
»Berater kommen, bewerten etwas, geben Ratschläge, die sie umgesetzt sehen wollen«, erläutert Schauspielchef Jasper Brandis. »Und dann reisen sie ab und tragen keine Verantwortung — weder für die Firma, noch für die Menschen. Das Produkt ist letztlich Nebensache. Nur die Erwartung, wie sich ein Produkt verkauft, ist ausschlaggebend — der Shareholder Value, die Psychologie der Aktienkäufer.« Und da schlägt die große Stunde der Dampfplauderer, der selbsternannten Experten, die ihre Kunden skrupellos immer dorthin navigieren, wo der größtmögliche Profit winkt. Während sich in den wechselnden Ländern vor den Hotelfenstern aufgrund der Ausbeutung hitzige Konflikte anbahnen, sitzen die Unternehmensberater Kai Niederländer und Frank Öllers in kühl klimatisierten Suiten. Mit ihrer glänzenden Erfolgsbilanz sind sie so sicher, die wertvollsten Mitarbeiter der »Company« zu sein, dass sie sich lediglich fragen, wer von ihnen zuerst die nächste Karrierestufe aufsteigt. Die Nachricht, dass ein dritter Kollege beide überrundet hat, kommt für Öllers und Niederländer ebenso überraschend wie die abgebrühte Bianca März, die dem Männerclub von höchster Ebene vorgesetzt wird.
Unweigerlich folgt ein herrlich zynisches Hauen und Stechen, bei dem die Rivalen über ihre Eitelkeiten ebenso stolpern wie über die Gier nach Anerkennung. Mag auch mal Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Idealismus aufblitzen — letztlich gibt es keinen Ausweg aus dem Konkurrenzdenken des entfesselten Turbokapitalismus. »Diese Leute haben innerhalb der Blase, in der sie sich bewegen, das Gefühl, sie bewegen die Welt«, fasst Jasper Brandis die gleichzeitige Naivität und Hybris der Figuren zusammen. »Sie haben hohe Spesenkonten, ein wahnsinniges Gehalt, aber befinden sich eigentlich in einem luftleeren, völlig spekulativen Raum. Dort ist alles kannibalisch: Weil nichts wirklich Wert hat, kann alles von allem aufgefressen werden.« Zuletzt aber wird das Trio unsanft auf die Frage gestoßen, die niemand offen zu stellen wagte: Was geschieht, wenn die Blase plötzlich platzt …?

AutorIn: Diane Ackermann
Datum: 30.11.2018