»ES GEHT DARUM, SICH ZU ENTSCHEIDEN.« EIN GESPRÄCH ZU FERDINAND VON SCHIRACHS »TERROR«

Ferdinand von Schirachs »Terror« macht uns zu Zeugen und Beteiligten eines Gerichtsprozesses. Theaterbühne und Zuschauerraum werden zu einem fiktiven Justizgebäude, ein exzeptioneller Fall wird verhandelt: Angeklagt ist ein Bundeswehrpilot, der befehlswidrig ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschoss, um zu verhindern, dass es über einem Fußballstadion zum Absturz gebracht wird. Hintergrund des Dramas ist das 2005 vom Bundestag angenommene Luftsicherungsgesetz, das ein solches Handeln erlaubte, aber vom Bundesverfassungsgericht wieder aufgehoben wurde. 

›Durfte‹ der Pilot 164 Flugzeuginsassen töten, um 70 000 Stadionbesucher zu retten? Schirach lässt in seinem Stück die Zuschauer abstimmen... 
Christian Katzschmann sprach mit Wolfgang Tresenreiter, Vorsitzender Richter am Landgericht Ulm, über die Problemstellung des Stückes und die ‚Bühne’ des Richter-Berufs.   

 

»Terror« führt anhand eines außergewöhnlichen Falls in einen Grenzbereich unseres Rechtssystems und steht damit in der Tradition von Gerichtsdramen der Literaturgeschichte, man denke an Heinrich von Kleist oder Peter Weiss. Sind aus Ihrer Perspektive die Realität einer Gerichtssituation und das Spiel auf der Bühne bei einem solchen »Gerichtsdrama« miteinander überhaupt vergleichbar?
Ich sehe so ein Stück natürlich mit Insiderwissen – das macht es mir leichter, das Gezeigte einzuordnen. Ich weiß daher, dass die Hauptverhandlung – also das Geschehen im Gerichtssaal – nur ein Ausschnitt des komplexen Gebildes »Strafverfahren« ist, wenn auch der wortwörtlich entscheidende. Da ist vorher schon einiges geschehen, was in die Verhandlung mit hineinspielt. Ein klein wenig ist das z.B. in »Terror« zu erahnen, als der Verteidiger den Richter kritisiert, weil er den Angeklagten in Haft belassen hatte. Vor allem darf man nicht vergessen, dass Wochen und Monate der Realität im Theater auf ca. 1 ½ Stunden komprimiert werden müssen. Hat man das im Blick, ist, abgesehen von der ungewöhnlichen Form der Urteilsfindung, »Terror« aus meiner Sicht eine vergleichsweise realistische Zusammenfassung einer Verhandlung.

Im Unterschied zu berühmten »courtroom dramas« wie Reginald Roses »Die zwölf Geschworenen« oder diversen populistischen Gerichtsshows im Fernsehen, bei denen das Publikum sich passiv ein Urteil bildet, ohne die Entscheidung beeinflussen zu können, aktiviert von Schirach in der fiktiven Gerichtssituation seines Dramas die Zuschauer, die dann über ›schuldig‹   oder ›nicht schuldig‹ befinden. Dieser Kunstgriff sorgt seit der Uraufführung 2015 für Kontroversen, da er im Widerspruch zum deutschen Rechtssystem stehe. Sehen Sie diese bewusst eingesetzte formale Ungenauigkeit skeptisch oder ist das eine Form künstlerischer Freiheit, die Sie akzeptieren? 
Nun, dass Stück zeigt diesen Widerspruch zur Realität klar auf, und deshalb kann ich damit gut leben. Kunst muss sich ja, um einzelne Aspekte herauszuarbeiten, von der Realität lösen. In der Malerei oder Fotografie würde den Betrachter eine 1:1-Abbildung, die nicht gestaltet, enttäuschen; das Theater geht hier eben mehr inhaltlich, sprachlich vor. Wenn es gelingt, dadurch ansonsten verborgen Bleibendes herauszuarbeiten und damit den Zuschauer zum Nachdenken anzuregen, halte ich eine solche Vorgehensweise für durchaus legitim. Was ich nicht mag, sind Verzerrungen aus bloßer Effekthascherei oder weil man sich einfach keine Mühe machte. 

Das deutsche Rechtswesen kennt den Geschworenen‹ als Laienrichter nicht (mehr), welche Qualitäten und Vorteile sehen Sie in diesem gravierenden Unterschied zum angelsächsischen Gerichtsverfahren, an dem sich von Schirachs Stück orientiert?
Die Vorgehensweise, wie man eine rechtlich »richtige« Entscheidung findet, kann man lernen. Man muss sie auch lernen, sonst geht man schnell in die Irre, ohne es zu merken. Sich im Rahmen der Gesetze zu entscheiden, ist gar nicht mal so leicht. Von einem Geschworenen, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Gerichtsverhandlung miterlebt, kann man diese Kenntnis nicht erwarten. Der muss notwendigerweise eher emotional entscheiden. Das sieht man übrigens sehr gut in dem vorhin erwähnten Stück »Die zwölf Geschworenen«. Der Berufsrichter hat es gelernt, seine Emotionen auszublenden und rationell vorzugehen. Ein amerikanischer Jurist hat das mal so formuliert: wenn er schuldig wäre, würde er lieber in den USA vor Gericht stehen, wenn er unschuldig wäre, lieber in Deutschland – weil er hofft, dort dennoch davonzukommen und dass hier eher die Wahrheit ans Licht kommt. Nach wie vor wirken aber auch bei uns Schöffen an der Entscheidungsfindung mit. Vom Gesetzgeber ist gewollt, dass das juristische Laien sind. Der Diskurs mit ihnen bei der Urteilsberatung ist für den Berufsrichter ein wichtiges Korrektiv.

In beiden Bereichen – Rechtsprechung und Theater – kommt der sprachlichen Vermittlung und Auslegung von Sachverhalten eine enorme Bedeutung zu. Muss man als Richter eine mindestens große Affinität zum Wort haben und zu den rhetorischen Mitteln wie der Bühnenkünstler?
In der Verhandlung will der Richter etwas erfahren – vom Angeklagten und von den Zeugen. Daher sollte er sich selbst zurücknehmen und zuhören. Für sprachliche Brillanz ist deshalb kein Raum. Erst mit dem Urteil gilt es, dem Angeklagten und den sonstigen Beteiligten die Entscheidung verständlich zu machen. Rechtlich ungleich wichtiger als die mündliche Urteilsbegründung ist die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe. Da gilt, dass gedankliche und sprachliche Präzision sich gegenseitig bedingen.

Tragen Ihrer Meinung nach Stücke wie »Terror« und dadurch angeregte Debatten zu einer größeren Sensibilität für juristische Sachverhalte und Problemstellungen bei oder verzerren sie das Bild, das sich der Laie von juristischer Meinungsbildung macht? 
Das kommt darauf an: wenn der Zuschauer mit der Erkenntnis nach Hause geht, es ist ja gar nicht so einfach, die richtige Entscheidung zu finden, kann das durchaus helfen. Der beurteilt dann vielleicht auch Medienberichte über Prozesse differenzierter. Die Fragestellung zeigt übrigens genau das auf, worum es nach meiner Sicht in dem Stück wie im richtigen Strafverfahren geht: Verlangt ist nämlich gerade nicht, sich eine Meinung zu bilden – die hat jeder von uns instinktiv, auch wenn sie schwanken mag. Es geht darum, sich zu entscheiden. Das bedeutet, hier und jetzt Verantwortung zu übernehmen, fordert einen deutlich mehr und kann auch mal weh tun.

Als Richter stehen Sie oft vor elementaren moralischen Fragen, komplexe Motive und Handlungsverläufe müssen im gesetzten Rahmen des Rechts beurteilt werden. Was hat Sie gereizt, dieses Fach zu studieren? Was fasziniert Sie an Ihrem Beruf?
Das ist die bisher schwierigste Frage. Es gibt das Vorurteil, dass die Juristerei »trocken« sei. Aus meiner Sicht ist das Gegenteil richtig: man hat mit dem Leben in all seinen Schattierungen zu tun. In dem Beruf bekommt man Einblicke in vielfältige Lebensbereiche, die einem sonst versagt bleiben. Das ist aber kein Selbstzweck: Jede Gesellschaft braucht funktionierende Mechanismen, um Konflikte aufzulösen und mit Regelverstößen umzugehen. Im Bereich des Strafrechts ist die Aufgabe dabei nicht nur, Unrecht zu sühnen und die Allgemeinheit vor neuen Straftaten so gut es geht zu schützen. Ebenso wichtig ist, dass der rechtstreue Bürger sich in seiner Entscheidung, er werde die für gedeihliches Miteinander unerlässlichen Regeln einhalten, bestätigt sieht. Und daran darf man als Richter mitwirken.

Wolfgang Tresenreiter ist seit 2002 Strafrichter beim Landgericht Ulm. 2012 wurde er zum Vorsitzenden Richter ernannt. Er war bis 2015 Vorsitzender Richter der 1. Kleinen Strafkammer des Landgerichts und der 2014 eingerichteten Hilfsstrafkammer, seit 2015 hat er den Vorsitz in der 3. Großen Strafkammer inne. Zudem amtiert er als Pressesprecher der Strafabteilung des Landgerichts.

AutorIn: Dr. Christian Katzschmann
Datum: 29.11.2018