EIN RADIKALES STÜCK DER STUNDE: SCHILLERS »DIE RÄUBER«

»Es ist das ewige Da capo, der Pöbel hört nie auf, Pöbel zu sein, und wenn Sonne und Mond sich wandeln, und Himmel und Erde veralten wie ein Kleid«, das stellt Schiller in einer Vorrede seinem Stückerstling »Die Räuber« voran – heftige Worte anlässlich eines schroffen und extremen Textes. Es war ein Stück der Stunde schon damals und es erfasste eine Zeit, die zu Radikalisierung Anlass gab. Sind wir davon so weit entfernt? Befinden wir uns momentan in einem Land, in dem wir gut und gerne leben? Offenkundig hat ganz wie in Schillers Drama Vater Staat erhebliche Schwierigkeiten, gravierende soziale Konflikte zu klären und zu lösen. Taugliche Konzepte sind nicht auszumachen, eine weitere Zersplitterung der Gesellschaft in unversöhnliche Lager droht, es zeichnen sich Risse im Gefüge der Legislative und Exekutive ab, deren Vertreter in der Öffentlichkeit stehen vor ungeahnten Legitimationsproblemen, akute Fragen in den Bereichen innere Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt bleiben unbeantwortet. Spürbar ist ein frappantes Defizit an Ideen und Utopien, die diese Sozialgemeinschaft jetzt und künftig verbinden sollen, auf welche historisch kulturelle Basis sie sich berufen sollte und darf, welche Werte sie heute und morgen als ethisch-moralische Grundlage begreift, in welcher Form, mit welchen Zielen sie sich fernerhin entwickeln will... 

Ist der Anreiz dieser Gesellschaft nurmehr der Status quo des Konsumismus, des Weiter-so eines möglichst reibungsarmen Wirtschaftens und Wohllebens in der von Zweifeln, Skrupeln und Denkanfällen immer eklatanter befreiten Arbeits- und Freizeitzone der Ersten Welt, die sich über die Ursachen ihrer Sonderstellung und Prosperität schon lange keiner kritischen Inventur mehr gestellt hat? »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Seculum. (...) Pfui! Pfui über das schlappe Kastraten-Jahrhundert, zu nichts nütze, als die Thaten der Vorzeit wiederzukäuen« – ähnlich wie heute trieb auch um 1780 der Zustand des Gemeinwesens gerade junge Menschen dazu, aufzubegehren, die abgelebten Instanzen des ›Establishments‹ in Frage zu stellen. In »Die Räuber« sind es zwei Brüder, Karl und Franz von Moor, gebildete Mitzwanziger aus privilegierten Kreisen, in denen sich Widerstandsgeist regt. Gesellschaftskritische Theorien und persönliche Befindlichkeiten fördern ihre Radikalisierung, sie empfinden die Notwendigkeit, soziale Missstände zu reklamieren, und sie sehen »Rechte, über die Natur ungehalten zu sein, und bei meiner Ehre, ich will sie geltend machen.«

Wie seine Akteure befindet sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auch der Autor selbst im Zustand der offenen Rebellion. Um seiner dichterischen Berufung nachzukommen, desertiert Schiller aus dem württembergischen Militärdienst, flüchtet mittellos ins Exil, willens, weiterhin Texte mit keineswegs staatstragendem Inhalt zu verfassen. »Die Räuber« ist ein brisanter Text zur Zeitgeschichte. Wenn in seinem Drama „ruinierte Krämer, Magister und Schreiber aus den schwäbischen Provinzen“ sich zu marodierenden Banden zusammenrotten, so ist der Autor nahe an der Realität, dem prekären Zustand eines offenkundig maroden Staatskörpers.

Das Fatale an diesen rebellischen Akteuren ist indes, dass sie außer Gewalt und Destruktion nichts als Alternative wider das alte System aufzubieten haben. Ihre Ansätze zu gesellschaftlicher Veränderung und Umsturz der Verhältnisse münden in rücksichtslose Grausamkeit. Unfähig auch zu mitmenschlich lebbaren emotionalen Bindungen durch einen Mangel an Empathie und ein Übermaß an Egozentrik befördert die Beziehungsunfähigkeit noch das Abdriften in Gewalt und Barbarei. Folgt man der Deutung des ausgewiesenen Schiller-Exegeten Gerhart Kluge, so wird das Theater des jungen Schiller »dort falsch verstanden, wo man vergißt, daß es ein Theater der Grausamkeit ist, des Terrors, exzessiver und hochgepeitschter Expression, der Kardinalverbrechen und der Sakrilege, der schärfsten Angriffe auf jede Autorität und Institution«, - es kennzeichnet Schillers genauen Blick auf seine Zeit, dass er kaum ein Jahrzehnt vor den dramatischen Ereignissen der französischen Revolution mit ihren grundstürzenden Auswirkungen auf ganz Mitteleuropa als seismographischer und sezierender Forscher die Vorbeben dieses gewaltsamen sozialen Umsturzes registriert und beschreibt, wenn der Mob sich aufgrund der inneren Aushöhlung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung formiert und deren Krise potenziert. Aus dieser genauen Beobachtung und dem Weitblick, der Radikalität der Darstellung bezieht Schillers Literatur ihre bewegende Kraft und sie verhilft uns weiterhin, die Wahrnehmung mit Blick auf unsere eigenen Zeitumstände zu schärfen. »Kommt, kommt! Glück zu dem Meister unter euch, der am wildesten sengt, am gräßlichsten mordet...« – Schillers intellektuelle Brandstifter und fiktiver Pöbel sind nicht zu unterschätzen, deren reale Nachfahren auf den Straßen dieses Landes ebensowenig.

AutorIn: Dr. Christian Katzschmann
Datum: 24.10.2018