ALS DIE OPERETTE IHREN BISS VERLOR
Ab April ist im Podium ein neuer Operettenabend zu erleben: »Lippen schweigen«. Sicher wird es ein unterhaltsames Stück, aber mit einem ernsten Hintergrund: Es geht um die Operette in der Zeit des Nationalsozialismus. Komponisten wie Paul Abraham, Fritzi Massary, Richard Tauber und Emmerich Kálmán mussten ab 1933 aus Deutschland fliehen. Operetten, an denen jüdische Künstler beteiligt waren, wurden aus den Spielplänen getilgt. Die Wahrnehmung der Operette in Deutschland veränderte sich radikal und dauerhaft. Wie kann aus solch einem zeithistorischen Thema das Konzept für eine Operetten-Revue entstehen? Und welche Musik wird zu hören sein? Benjamin Künzel, am Theater Ulm bereits als Regisseur zahlreicher umjubelter Operetten und Experte für das musikalische Lustspiel bekannt, entwickelt und inszeniert »Lippen schweigen«. Im Gespräch mit Dramaturg Christian Stolz gibt er einen ersten Ausblick auf dieses Musiktheater-Projekt der besonderen Art.
Christian Stolz Wurde die Operette im Nationalsozialismus beschnitten in ihrer Ausgelassenheit, ihrer Frechheit, ihrer Freiheit, ihrem Spaß?
Benjamin Künzel Ich würde es anders formulieren. Operette hat sicherlich weiterhin Spaß gemacht, aber sie hat in der Zeit des Nationalsozialismus eine große Veränderung erfahren. Eine Veränderung, die ich – wenn ich sie vor dem operettengeschichtlichen Hintergrund betrachte – als einen Rückschritt und als eine Beschneidung bewerte. Viele Aspekte, welche die Operette auszeichnen, wurden negiert oder es wurde sich von ihnen verabschiedet. Deshalb ist es zu pauschal, wenn man sagt, dass die Operette im Nationalsozialismus unlustig wurde. Die Operette im Dritten Reich erfüllte einen bestimmten Zweck: Sie wurde missbraucht und verlor ihren Biss. Das ist das, womit sich auch das Stück »Lippen schweigen« auseinandersetzt: einen Blick darauf zu werfen, was sich in der Operette veränderte und zu spüren, welche ästhetischen Auswirkungen das hatte.
Christian Stolz Wie haben sich die Nationalsozialisten die Operette für die eigene Ideologie zunutze gemacht?
Benjamin Künzel Der Missbrauch der Operette ist die Konsequenz eines bestimmten Gedankens: Es ging darum, die Operette zu säubern, sie national zu machen, sich auf etwas zu berufen, das nationale Identität stiftet. Das hängt mit dem Programm der Nationalsozialisten zusammen, Juden auszuschließen und zu verfolgen. Die jüdische Literaten- und Komponisten-Szene hat vor 1933 das Operettenleben in Deutschland und Österreich weitestgehend dominiert. Zahlreiche der fantastischen Textdichter und Komponisten kamen aus dem jüdischen Umfeld - auch viele Künstler, die auf der Bühne standen -, was den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge war. Bald wurden auch sämtliche andere Werke, die ausländisch waren, getilgt. Britische und französische Operette fand nicht mehr statt. Jacques Offenbach, welcher die Operette erfunden hat - ein deutscher Jude, der in Frankreich Operetten kreierte -, taucht in Operettenführern des Dritten Reichs nicht mehr auf, als hätte es ihn nicht gegeben. Ich denke, es ging den Nationalsozialisten darum, eine nationale Identität auch auf der Operettenbühne zu schaffen: › deutsche‹ Themen, ›deutsche‹ Figuren, ›deutscher‹ Humor, oder das, was man im Nationalsozialismus dafür hielt, und nicht ›jüdischen‹ Humor. Die Komplexität der Umstände, aufgrund derer man nach den zwölf Jahren des Dritten Reichs nicht zu der Operette zurückkehren konnte, die es davor gab, wirkt bis heute nach: nicht nur, weil die Ausführenden verstorben oder ausgewandert waren, sondern weil sich eine Ästhetik verloren hat. Die Operette der Fünfziger und Sechziger Jahre ist letztlich stark davon geprägt, wie die Nazis sie umgeformt haben.
Christian Stolz Hat die Operette diese ästhetischen Verluste heute zumindest teilweise überwunden?
Benjamin Künzel Dieser Prozess ist noch im Gange. Es gibt großartige Beispiele dafür, sich wieder an das heranzuwagen, was Operette war. Das heutige Operettenpublikum stammt zum Teil aus einer Altersschicht, die mit dem aufgewachsen ist, was nach dem Dritten Reich in Deutschland als Operette ausgegeben wurde. Diesem Publikum kommen Wiederbelebungsversuche dessen, was Operette vor dem Dritten Reich bedeutete, sehr fremd, sehr schrill, vielleicht auch unangenehm vor. Man muss sich allerdings die Frage stellen, ob man ein Operetten-Fan ist, wenn man die Wurzeln der Operette gar nicht erträgt, wenn einem das zu heftig ist. Natürlich gibt es auch Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich überzeugen lassen und wahnsinnig viel Freude an der ursprünglichen Operette haben.
Christian Stolz Du beschäftigst Dich für »Lippen schweigen« mit der Geschichte der Operette. Findet man Dokumente aus dem Dritten Reich, in denen die Zensur, die stattgefunden hat, offen kommuniziert wird?
Benjamin Künzel Ja, man findet solche Dokumente. Vor einigen Jahren gab es in Dresden einen großartigen Kongress: »Operette unterm Hakenkreuz«. Dazu ist ein Band erschienen, in dem einige historische Dokumente von Musik- und Theaterwissenschaftlern zusammengetragen wurden. Mit diesen Materialien beschäftige ich mich. Der Kongress in Dresden war einer der ersten Versuche, sich mit der Operette der NS-Zeit auseinanderzusetzen und ist bis heute einer der wenigen, die schriftlich fixiert sind. Ganz Vieles ist aus der Rückschau auf die NS-Zeit zu ersehen: Je nachdem, in die Biografie welches Komponisten oder Textdichters, welcher Sängerin oder welches Sängers man eintaucht, setzen sich Puzzlestücke zusammen, weil ähnliche biografische Lücken und Zäsuren sichtbar werden. Wer floh in welches Land? Welche Stücke blieben auf den Spielplänen? Man kann auch rekonstruieren, welche Operetten im Reichsrundfunk gesendet wurden und welche nicht. Eine spannende Frage ist: Inwiefern sind die Operetten, die im Reichsrundfunk zu hören waren, anders in ihrer textlichen Fraktur als das originale Textbuch? In vielen Fällen sieht man deutliche Unterschiede.
Christian Stolz Wie entsteht aus diesen theoretischen Fragen die Idee für ein Stück?
Benjamin Künzel Es gab hier im Theater die Idee zu einem Projekt, das sich mit der NS-Zeit beschäftigt, in einem Genre, das man in dem Kontext vielleicht nicht erwartet: der Operette. Ich war von dem Vorhaben sofort angetan, wollte aber keine Operette der NS-Zeit aufführen oder eine vom NS-Regime verachtete Operette, denn darin gäbe es keine Möglichkeit der Kommentierung. Eher schwebte mir ein Stück vor, das sich mit der Veränderung und Entwicklung der Operette im Dritten Reich beschäftigt. Dann fing die Phantasie an zu arbeiten: Wie erzählt man das? Man könnte eine Lehrstunde mit erhobenem Zeigefinger auf die Bühne bringen. Für mich ist jedoch die Idee spannender, das, was im Dritten Reich mit der Operette geschehen ist, zu erspüren, zu erleben, einen direkten Eindruck davon zu bekommen, wie sich das Genre und die Musik veränderten. Vielleicht geht man aus der Vorstellung von »Lippen schweigen« hinaus und sagt: Es war lustig und ich habe schöne Musik gehört. Man könnte hinterher aber auch denken: Bei dem, was heute Abend passiert ist, ist mir das Lachen im Hals stecken geblieben, und ich weiß nicht, warum. Diese Stimmungen wollen wir beim Proben entdecken. Einige Musikstücke platzieren wir in »Lippen schweigen« mehrmals: so, wie sie vermutlich vor 1933 erklungen sind, und so, wie sie in der NS-Zeit interpretiert worden sein könnten. Es wird ein Operetten-Abend, der atmosphärisch wahrzunehmen ist. Man kann ein Operetten-Hitparadenkonzert sehen oder hinter die Fassade blicken. Das Bühnen- und Kostümbild von Maike Häber spielt dabei eine bedeutende Rolle, denn es wagt den Blick hinter die Kulissen.
Christian Stolz »Lippen schweigen« wird ein Musiktheater-Projekt, das genau auf die Gegebenheiten am Theater Ulm zugeschnitten ist: auf das Podium, auf die Mitwirkenden, auf das Ensemble …
Benjamin Künzel Absolut. Es ist ein Projekt, bei dem ich die Mitglieder des Ensembles bereits beim Schreiben des Stücks mitbedenke. Auch das ist eine Vorgehensweise, die aus der Operettentradition stammt: die Operette schon beim Verfassen auf die Mitwirkenden zuzuschneiden. Maria Rosendorfsky, Joshua Spink und die Pianistin Alwina Meissner bilden ein tolles Ensemble, das genau das gut kann: sich Dinge zu eigen machen und mit musikalischem Material arbeiten. Bühnenbildnerin Maike Häber kennt den Raum des Podiums sehr gut und hat die Atmosphäre von »Lippen schweigen« sofort für sich begriffen. Für das Ulmer Publikum entwirft sie im Podium etwas Unterhaltsames, gleichzeitig geht es nicht nur um eine vordergründige glitzernde Showkulisse.
Christian Stolz Was erwartet das Publikum musikalisch?
Benjamin Künzel Mein Ziel ist es, musikalisch einen großen Querschnitt zu zeigen. Es sollen Stücke vorkommen, die vor 1933 ganz selbstverständlich auf den Spielplänen standen: zum Beispiel die französischen Operette Jacques Offenbachs, österreichische Operette, deutsche Operette, Werke jüdischer und nicht-jüdischer Komponisten, Vieles aus der Zeit ab den 1860er-Jahren der alten Garde von Johann Strauß hin über die Jahrhundertwende zu Franz Lehár und Eduard Künneke, Oscar Straus und Leo Fall. Darüber hinaus geht es um Komponisten, die ihre Glanzzeit im Dritten Reich erlebten: wie Fred Raymond oder Friedrich Schröder, deren Operetten man teilweise heute immer noch spielt, obwohl man sich oftmals nicht klarmacht, aus welcher Zeit sie stammen. Populäre Operetten-Schlager werden zu erleben sein, bei deren Texten man vielleicht manchmal unbedacht mitsingt, und einige Trouvaillen, die man selten bis gar nicht hört.
Christian Stolz Sollte man ein Operetten-Kenner sein, wenn man »Lippen schweigen« besucht?
Benjamin Künzel Nein. Es ist ein Stück, in das man hineingeht, wenn man Lust hat, etwas zu erfahren, vielleicht auch nur atmosphärisch zu erfahren. Man braucht Offenheit, muss sich aber nicht in der Operettengeschichte auskennen. Es soll kein Abend für Spezialisten sein, ganz im Gegenteil: Du kannst als Zuschauer schlichtweg erleben, was die Dinge in Dir bewirken.
Christian Stolz Worauf freust Du Dich, wenn Du an die Probenzeit denkst, die nun beginnt?
Benjamin Künzel Ich freue mich auf die Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen und darauf, die Operette ernst zu nehmen, die Stücke, die wir ausgesucht haben, daraufhin zu untersuchen, was zwischen ihren Zeilen steckt, um hinter die oberflächliche Ebene eines Operetten-Wunschkonzerts zu blicken: Wo steckt der Operetten-Dorn?
Bühnenbildmodell von Maike Häber